Manchmal verlieren wir unsere Praxis der Achtsamkeit genau dann, wenn wir sie am nötigsten brauchen: mitten in einer Krise. Erfahre, wie du zu Achtsamkeit und Meditation im Alltag zurückzufindest, um auch in Krisenzeiten mit der Kraft aus deiner Mitte verbunden zu bleiben.

Diesen Beitrag schreibe ich in Monat fünf seit Beginn der Corona-Krise. Wie viele andere dachte ich, dass wir das Schlimmste mit der Öffnung des Lockdown überwunden haben und unser Leben nun wieder seinen normalen Verlauf nimmt. Es zeigt sich derzeit jedoch eine unerwartet andere Situation, die mir von vielen psychotherapeutisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen bestätigt wird.

Wenn eine Krise zur neuen Normalität wird

Vor allem Eltern zwischen 30 und 40 Jahren mit Kindern im Grundschulalter scheinen unter der langzeitigen Krisenbelastung reihenweise einzuknicken. Ich erlebe derzeit alarmierend viele grundsätzlich ambitionierte und leistungsstarke junge Eltern in einem Zustand von Überforderung, Angst, Frustration, Depressionsneigung und körperlicher Schwäche.

Die finanzielle Lage durch Kurzarbeit und Jobverlust verursacht vielen schlaflose Nächte. Selbst Betroffene mit einer grundsätzlich stabilen Stress-Resilienz ermüden mittlerweile unter der enorm stressreichen Beschulungssituation der Kinder und den derzeit fehlenden Zukunftsperspektiven.

Erste Hilfe für Achtsamkeit Praktizierende in der Krise

Mein Beitrag richtet sich vor allem an diese jungen Eltern und er bezieht sich nicht primär auf die Corona-Lage, sondern letztlich auf jede Art von existenzieller Krise. Dabei habe ich diejenigen im Fokus, die Erfahrungen mit Achtsamkeit und Mediation haben und die von der Krise aus ihrer Praxis „herausgekegelt“ wurden. Sie verfügen nämlich bereits über hilfreiches Handwerkszeug für einem heilsamen Umgang mit der Krisensituation.

Auf der Basis der Achtsamkeitspraxis braucht es oft nur etwas mitfühlenden Zuspruch. Sanfte Erinnerungen an den Weg und Hinweise für die Achtsamkeitsübungen, reichen bei vielen aus, um ins innere Gleichgewicht zurückzufinden.

Warum die Achtsamkeitspraxis in der Krise verloren geht

Der Verlust der Achtsamkeitspraxis ist ein unmerklicher, schleichender Prozess. Zu Beginn einer Krise werden alle Ressourcen konzentriert auf deren Bewältigung gerichtet. Das ist eine automatische Überlebensreaktion unseres Organismus. Hört die Krise nicht auf, kommen periphere Belastungen hinzu und ist die Situation von Unklarheit und Widersprüchlichkeiten geprägt, werden noch mehr Kräfte mobilisiert.

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Wenn die Adaptionsfähigkeit ihre Grenzen erreicht

Adaptionsfähigkeit nennt man den Prozess, bei welchem unser inneres System fortwährend versucht, sich an eine Situation anzupassen. Hält der Zustand zu lange an, tritt irgendwann eine Tiefenerschöpfung ein, denn diese Fähigkeit dient evolutionär bedingt der Anpassung an kurzfristige Bedrohungssituationen. Im Dauereinsatz führt sie zu Erschöpfung, Krankheit und letztendlich zum Tod.

Aus einem tiefen Erschöpfungszustand bringen einen selbst drei Wochen Urlaub nicht wieder heraus – es wäre eine sehr viel längere Regenerationsphase vonnöten. Eltern mit Kindern jedoch können von Entspannung derzeit nur träumen. Täglich müssen sie aufs Neue, wie Sisyphos, den Felsblock den Berg hinaufrollen.

Keine Zeit für Achtsamkeit und Meditation

In diesem Überlebensmodus richtet sich die Aufmerksamkeit nur noch auf die Bewältigung der Krise. Regenerierende Ressourcen werden zunehmend vernachlässigt. Betroffene erzählen mir, dass sie derzeit Nachts schlecht schlafen und sich morgens zu gerädert fühlen, um sich zum Meditieren hinzusetzen. Abends sind sie so erschöpft, dass an Meditation ebenfalls nicht zu denken ist.

Die Tage sind ein einziger logistischer Balanceakt, dem die informelle Achtsamkeitspraxis nicht selten zum Opfer fällt. Achtsamkeit und Meditation, die sonst als nährend empfunden werden, scheinen in der Krise keinen Platz zu haben.

Overthinking: Wenn Leben nur noch im Kopf stattfindet

Solch eine Daueranspannung erzeugt einen enormen Stress. Die Auswirkungen dieses Stresses erzeugen unangenehme körperliche Empfindungen: Schwäche, Müdigkeit und Schmerzen. Um das nicht spüren zu müssen und leistungsfähig in der Krisenbewältigung zu bleiben, ziehen viele Betroffene die Aufmerksamkeit aus dem Körper ab.

Als Folge davon sammeln sich die Energien im Kopf. Es kommt zu einer energetischen Stagnation mit Gedankenkreisen, Grübeln und Zwangsgedanken. Auf diese Weise wird das Denken selbst zum Stressor.

5 Tipps: So bleibst du auch in der Krise mit Achtsamkeit verbunden

Hier sind einige Tipps, um auch in der Krise mit der heilsamen Kraft der Achtsamkeit verbunden zu bleiben. Diese Vorgehensweisen haben sich bei meinen Klienten gut bewährt. Setz einfach um, was gut für dich passt.

1.  Begegne dir selbst mit Mitgefühl

Die Antwort auf emotionales Leid sollte immer Mitgefühl sein. Vor allem in Krisenzeiten neigen wir dazu, so in deren Bewältigung verstrickt zu sein, dass wir uns selbst vergessen. Im Kümmern um den Daily Staff und unsere Lieben verlieren wir aus dem Blick, wie schwer wir selbst es gerade haben.

Es kann befreiend und erleichternd sein, anzuerkennen, dass wir gerade leiden, dass wir ausgelaugt und frustriert sind und dass wir es nicht schaffen, all unseren Ansprüchen gerecht zu werden. Ich nenne das Milde.

Milde mit uns zu sein und gut für uns zu sorgen, ist kein Egoismus, sondern ein Akt der Selbstliebe. Kümmern wir uns nicht um uns selbst, ist der Brunnen unserer Kraft irgendwann erschöpft. Und aus einem leeren Brunnen kann niemand trinken – weder wir selbst, noch unsere Lieben.

2.  Fokussiere dich auf die Achtsamkeit im Alltag

Sitzende Achtsamkeitsmeditation in Krisenzeiten scheint sich eher für diejenigen als hilfreich zu erweisen, die bereits einen starken, klaren und fügsamen Geist trainiert haben.

Sind die geistigen Kräfte hingen zu schwach entwickelt, kann es geschehen, dass der Meditierende von Gedanken und Emotionen in der Meditation geradezu überschwemmt wird. Die Kopfkirmes nimmt dann in der Stille des Sitzens so richtig Fahrt auf. Wer das bei sich bemerkt, sollte in der Krise den Schwerpunkt auf die Praxis der Achtsamkeit im Alltag richten und auf das Sitzen eine Zeit lang verzichten – oder es zumindest reduzieren.

Unwissende halten die Achtsamkeit im Alltag für eine minderwertige Form der sitzenden Meditation. Das ist ein großer Irrtum. Bereits der Buddha hat betont, dass Erleuchtung auch im Alltag erfahren werden kann. Er hat bei vielen Gelegenheiten die Gleichwertigkeit von achtsamem Gewahrsein auf alltägliche Verrichtungen und sitzender Achtsamkeitsmeditation hervorgehoben.

Die Art der Verrichtung ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist das Maß an Gewahrsein, in dem sie durchgeführt wird.

3.  Achtsamkeitsübungen: Packe kleine Päckchen

In einer Krise ist die Aufmerksamkeitsspanne aufgrund des hohen Stresspegels oft eingeschränkt. Überambitionierte Meditationen und Achtsamkeitsübungen können sich deshalb als kontraproduktiv erweisen. Wenn du merkst, dass du öfter scheiterst, dann reduziere Zeit und Komplexität der Achtsamkeitsübung. Packe kleinere Päckchen:

  • Reduziere die Zeit der sitzenden Achtsamkeitsmeditation. Während Krisenzeiten kann bereits eine 10-minütige Fokussierung eine echte Herausforderung bedeuten.
  • Mach nicht den ganzen Abwasch zur Übung, sondern widme dich mit vollkommener Aufmerksamkeit dem Spülen einer einzelnen Tasse.
  • Statt eine ganze Mahlzeit achtsam zu essen, richte deine freundliche Aufmerksamkeit auf den ersten (oder den letzten) Bissen.

4.  Bring Energie in den Körper zurück

Wenn wir verloren gegangen sind, in überwältigenden Gedanken und Emotionen, den unvermeidlichen Begleitern einer Krise, dann wird es Zeit, Holz zu hacken und Wasser zu holen. Holz hacken und Wasser holen ist eine Metapher für Bodenständigkeit, die unser Augenmerk auf das Nächstliegende richtet.

Einfache Tätigkeiten wie Aufräumen, Staubsaugen, Fensterputzen oder Gartenarbeit haben eine erdende Wirkung. Wir brauchen meistens nicht viele Gedanken, um sie durchzuführen, was uns ermöglicht, uns ihnen ganz und gar hinzugeben. Der Kopf wird frei, stagnierende Körperenergien kommen wieder ins Fließen und arbeiten wir draußen, bekommen unsere Zellen frischen Sauerstoff.

Auch sportliche Aktvitäten können hilfreich sein. Da Krisen oft mit körperlicher Schwäche einhergehen, achte darauf, Bewegung im Hinblick auf Dauer und Intensität so durchzuführen, dass du Freude daran hast. Mach sie nicht zu einem Survival-Training.

Um die Energie in den Körper zurückzubringen sind folgende Meditationen hilfreich, die du anstelle der sitzenden Achtsamkeitsmeditation praktizieren kannst:

5.  Lade deine Achtsamkeitspraxis bewusst mit Freude auf

Wenn du mit Frustration daran denkst, zu wenig Achtsamkeit praktiziert zu haben, lädst du deine Achtsamkeitspraxis negativ auf. Jeder diesbezügliche frustrierte Gedanke wird dann im Gehirn mit dem Thema Achtsamkeit und Meditation verknüpft. Und unser Gehirn ist so angelegt, dass es meidet, was negativ besetzt ist.

Deshalb ist es wichtig, dass du jedes Mal bewusst Freude und Dankbarkeit in dir aufsteigen lässt, wenn du praktiziert hast. Auch wenn du es „nur“ geschafft hast, im Alltag einmal die Aufmerksamkeit zum Atem zu bringen, beglückwünsche dich dafür. Wird deine Praxis positiv konnotiert, wird es dich automatisch immer wieder dort hinziehen.

Unser Gehirn ist ein äußerst komplexes Ding. Aber in dieser Hinsicht ist es erstaunlich primitiv: leicht durchschaubar und vor allem leicht manipulierbar.

Mögen meine Ausführungen hilfreich für dich sein, um gut durch die Krise zu kommen und sie als Chance zu innerem Wachstum zu nutzen.

© Doris Kirch, 2020