Es ist gar nicht so einfach, eine Achtsamkeitspraxis aufrechtzuerhalten, wenn einem der Wind des Alltags kalt ins Gesicht bläst. Durch Achtsamkeitsrituale gelingt es uns, immer wieder in den Modus der Achtsamkeit zurückzufinden. Außerdem kann die Verbindung von Achtsamkeit und Ritualen eine tiefe menschliche Sehnsucht nach Rückverbindung in uns stillen.

Rituale: So alt wie die Menschheit

Unser Alltag kennt viele rituelle Ausführungen. Da ist zum Beispiel die morgendliche Kaffee- oder Teezubereitung, das Lesen der Tageszeitung, das Glas Wein am Abend oder der Tatort am Sonntag. Sie werden zwar oft als „Rituale“ bezeichnet, aber in Wahrheit sind diese alltäglichen Verrichtungen eher Routinen – und damit alles andere als wirksame Achtsamkeitsrituale.

Meistens werden sie ohne innere Beteiligung abgespult. Die Ausführungen haben den Charakter automatisch ablaufender Gewohnheiten. Das Bewusstsein ist überall – nur nicht im gegenwärtigen Moment.

Es gibt jedoch Rituale, die so alt sind, wie die Menschheit selbst. Sie werden bewusst und in tiefer Besinnung durchgeführt. In allen Kulturen der Erde haben solche Achtsamkeitsrituale schon immer dazu gedient, die psychisch-seelischen Kräfte zu stärken und Menschen miteinander zu verbinden. Auch moderne wissenschaftliche Studien bestätigen die Wirkung von Ritualen.

Aufsteigender Rauch im Rahmen eines Achtsamkeitsrituals

Achtsamkeitsrituale bringen uns unserem Menschsein näher.

Rituale fördern Spiritualität und senken Stress

Rituale ermöglichen uns, konditionierte Verhaltensweisen, Regeln, Erwartungen, die die Gesellschaft an uns stellt (oder die wir selbst an uns stellen) zu überschreiten und mit dem „Ursprung von allem“ in Verbindung zu treten.

Seit Urzeiten haben Menschen Rituale genutzt, um in ihre Balance zurückzufinden und ihre Basis zu stärken. Mit Hilfe von Ritualen können wir Lebensübergänge meistern, Traumen heilen, Sinn und Werte wiederentdecken und Dankbarkeit und Freude ausdrücken. Besonders wertvoll ist, dass sie uns ermöglichen, unsere Beziehung zur Welt zu ordnen.

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Mit Achtsamkeitsritualen die Rückkehr des Heiligen fördern

Vielleicht lächelst du gerade, weil du das für esoterischen Schnickschnack hältst. Als ich jung war, ging mir das auch so. Über die Jahre jedoch war mir das Leben ein guter Lehrmeister, der mir half, meine ignorante Arroganz zu überwinden und tiefer zu sehen. Und je älter ich werde und je schneller und oberflächlicher unsere Welt wird, desto mehr erkenne ich die Wichtigkeit und den Wert von Ritualen.

Wir leben in einer Zeit schneller Veränderungen. Das lässt Ängste, Unsicherheit und Isolationsgefühle in uns entstehen und parallel dazu eine tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit, Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit.

Achtsamkeitsrituale pragmatisch in den Alltag integrieren

Achtsamkeitsrituale sind ein wirksames Mittel gegen Verwirrung, Angst, Isolation und das Empfinden von Sinnlosigkeit. Jeder, der im Rahmen eines Rituals einmal auf einer tiefen spirituellen Ebene mit sich selbst in Kontakt gekommen ist, wird das bestätigen. Ich bin immer wieder überrascht, wie tief die Sehnsucht nach Innehalten, Rückverbindung (lat. religio), Wertschätzung – und auch nach „dem Heiligen“ im Menschen verankert ist.

Das Ganze ist nicht einmal halb so „spinnert“, wie es sich vielleicht liest. Es ist vielmehr „bewusst pragmatisch“. Indem wir Bewusstsein in unsere gewöhnlichen Verrichtungen bringen und sie kreativ und spielerisch gestalten, geben wir ihnen ihren „Zauber“ zurück und erschließen uns die Kraft, die Ritualen innewohnt.

Das Profane heiligen: Putzen als Achtsamkeitsritual

Gestern kam ich mit einem männlichen Familienmitglied ins Gespräch über Hausarbeit. Ich erwähnte, dass ich kürzlich meine schönen Bleikristallgläser und -schalen im Schrank geputzt habe. Mit verständnislosem, kopfschüttelndem Grinsen gestand er mir, wie sehr er Aufräumen und Putzen verabscheue.

Ich verriet ihm das Geheimnis meiner Putzfreude: Achtsamkeit – also eine bestimmte geistige Haltung, in der ich meine täglichen Arbeiten verrichte. Das beginnt bereits mit dem Bewusstsein des Besitzens als solches: Die Dinge, mit denen ich mich umgebe, habe ich mir ganz bewusst zugelegt. Bei manchem handelt es sich auch um Geschenke, die eine Geschichte haben. Ich besitze nichts Überflüssiges.

Rituale beruhigen Geist und Herz

Somit hat jeder Gegenstand einen bewussten Wert für mich. Indem ich ihn putze, erfreue ich mich an ihm und durch meine Aufmerksamkeit und Pflege bringe ich meine Wertschätzung diesem Gegenstand gegenüber zum Ausdruck. Somit ist Putzen keine lästige Hausarbeit für mich, sondern gelebter Ausdruck meiner Achtsamkeitspraxis. Auf diese Weise zu putzen, beruhigt meinen Geist  und erfreut mein Herz.

Bügeln als Achtsamkeitsritual im Alltag

Du musst im Job oft Hemden tragen? Dann mache Bügeln zu einem Achtsamkeitsritual.

Drei Achtsamkeitsrituale für den Alltag

1. Den Jahreswechsel als Achtsamkeitsritual gestalten

Ich schreibe diesen Beitrag zur magischen Zeit der geweihten Rauhnächte, an denen Gott Odin der Überlieferung nach mit seinem wilden Heer übers Firmament zieht, um Fruchtbarkeit und Wachstum zu gewährleisten.

Für mich sind diese Tage des Jahres eine Zeit des rituellen Rückzugs, die ich, wann immer möglich, im Schweigen verbringe. Entweder ziehe ich mich ins Retreat zurück oder in eine stille häusliche Klausur. In einer Mischung aus Meditation, Introspektion und Schreiben, lasse ich das vergangene Jahr noch einmal bewusst an mir vorüberziehen.

Fragestellungen, die das Erforschen erleichtern

Mein roter Faden für das Achtsamkeitsritual sind bestimmte Fragestellungen. Sie geben mir Klarheit und Struktur und erleichtern es mir, Überlebtes loszulassen und mich dem Neuen mit Anfängergeist, offen und unbelastet zuzuwenden.

  • Was war das schönste Ereignis des vergangenen Jahres?
  • Welches war das schlimmste Ergeignis des vergangenen Jahres?
  • Was habe ich aus beidem gelernt?
  • Mit Blick auf das letzte Jahr: Was habe ich in diesem Jahr von anderen bekommen, wie wurde ich unterstützt?
  • Welche Schwierigkeiten habe ich anderen bereitet?
  • Was habe ich anderen im letzten Jahr gegeben?
  • Wofür bin ich dankbar?
  • Was möchte ich im alten Jahr zurücklassen?
  • Welche Eigenschaften möchte ich im neuen Jahr kultivieren und wie werde ich das tun?

Feuer ist für mich ein wichtiger Begleiter dieses Rituals; ihm wird eine transformierende Wirkung zugeschrieben. Weil achtsames Schreiben mir hilft, meine Gedanken zu ordnen, schreibe ich alles auf einen Zettel, das ich im alten Jahr zurücklassen möchte. Dann binde ich diesen Zettel an einen Tannenzapfen und übergebe beides der reinigenden Kraft der Flammen.

2. Eine tägliche Verrichtung als Achtsamkeitsritual nutzen

Viele finden die Bereitung des Morgengetränkes als Achtsamkeitsritual hilfreich. Der Geist ist noch ruhig, wach und frisch. Nutze diese Frische, um ein achtsames Bewusstsein in den gegenwärtigen Moment zu bringen. Werde dir deiner Körperhaltung bewusst und jeder kleinen Bewegungsveränderung des Beugens und Streckens.

Achtsamkeit spielt sich nicht nur im Kopf ab – sie ist vor allem eine körperliche Erfahrung. Denn der Körper hat nur einen Ort: hier und nur eine Zeit: jetzt.

Doris Kirch

Nutze alle Sinne, für dein Achtsamkeitsritual: Fühle die runde Tasse, rieche den aromatischen Tee oder Kaffee, höre das Wasser sprudeln, sieh den Dampf aufsteigen, spüre die Feuchtigkeit auf der Haut. Und dann genieße mit allen Sinnen den ersten Schluck. Willst du die Übung intensivieren, dann sei dir bei alledem – sozusagen im Hintergrund – deines Atmens bewusst.

Was Rituale heilsam macht, ist das Bewusstsein von All-Verbundenheit – Verbundenheit mit anderen Menschen oder mit etwas, das größer ist, als wir selbst. Du kannst das Profane also heiligen, indem du dich in Dankbarkeit darauf besinnst, wie viele Bedingungen und Menschenhände nötig waren, damit du dieses Getränk in diesem Moment genießen kannst.

Der Lärm äußerer Riten verschwindet, wenn wahre Erkenntnis anbricht.

Ramakrishna

Achtsamkeitsritual: Vor dem Essen beten

3. Stille Zeiten als Achtsamkeitsritual

Durch Achtsamkeitsrituale kannst du im Taumel des Alltags wieder zur Ruhe kommen und Kraft tanken. Besinnung braucht Abstand und Ruhe; seelische Läuterung erfordert Raum, Weite und Entschleunigung. Deshalb ist es gut, dir Zeit dafür zu nehmen. Zeit für dich selbst.

Das kann ganz unterschiedlich aussehen: Mache einen bewussten Waldspaziergang, ziehe dich in ein mehrtägiges Achtsamkeitsretreat im Schweigen zurück, buche einen Achtsamkeitstag oder gestalte dir selbst einen Achtsamkeitstag zu Hause.

pdfKostenloser PDF-Download: Anleitung Achtsamkeitstag zu Hause →

Mögen die Achtsamkeitsrituale dir helfen, Besinnung in deinem Alltag zu finden.

© Doris Kirch