Die inneren Haltungen der Achtsamkeit bilden das Herz der Achtsamkeitspraxis. Viele glauben, achtsam zu sein bedeute aufmerksam zu sein. Aber Achtsamkeit im Sinne ihrer buddhistischen Wurzeln, hat eine viel tiefere Bedeutung. Sie ist Ausdruck bestimmter Qualitäten des Geistes und des Herzens, die auf Weisheit und Mitgefühl basieren. Diese Qualitäten sind das Fundament eines glücklichen Lebens.

Achtsamkeit ist mehr als Aufmerksamkeit

Auf die Frage, was für sie Achtsamkeit sei, antworten die meisten Menschen mit einer Beschreibung von Achtsamkeit als Aufmerksamkeit. Sie verwenden die Begriffe synonym – für sie ist Achtsamkeit einfach das „schickere“ Wort. Interessant ist, dass viele plötzlich eine weichere Stimme und einen leicht verklärten Blick bekommen, wenn sie von Achtsamkeit reden. Offenbar scheint es hier um mehr zu gehen, als um die rein kognitive Gehirnfunktion der Aufmerksamkeit.

Achtsam sein heißt, die Haltungen der Achtsamkeit zu leben

Das mittlerweile inflationär verwendete Wort Achtsamkeit scheint ein ganzes Konglomerat an Vorstellungen, moralischen Konzepten und Emotionen im Gepäck zu haben. Geschuldet ist diese Tatsache der Situation, dass die Praxis der Achtsamkeit gerade groß in Mode ist und als Heilsbringer gegen nahezu jegliches Leiden gepriesen wird. Realistisch oder nicht: das weckt Phantasien und Sehnsüchte.

Bei der Achtsamkeit, von deren wunderbaren Wirkungen Menschen weltweit berichten, geht es jedoch um etwas anderes, als um eine kognitive Gehirnfunktion. Diese Achtsamkeit hat als Achtsamkeitspraxis ihre Wurzeln in den buddhistischen Lehren und ist verbunden mit bestimmten Geisteshaltungen.

Wer Achtsamkeit praktiziert, tut deshalb mehr, als aufmerksam zu sein. Er nutzt seine Fähigkeit der Aufmerksamkeitslenkung, um diese inneren Qualitäten zu entwickeln und durch sein Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck zu bringen.

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7 oder 9 oder mehr: Die geistigen Qualitäten der Achtsamkeit

Die inneren Haltungen der Achtsamkeit werden oft als sieben Qualitäten beschrieben, die je nach Übersetzung unterschiedlich benannt sein können. Jon Kabat-Zinn, der „Vater der modernen Achtsamkeitspraxis“ fügte noch zwei wesentliche Aspekte hinzu: Dankbarkeit und Großzügigkeit.

Es erweist sich als hilfreich, auch die Eigenschaften Mitgefühl (inklusive Selbstmitgefühl), Humor und Freundlichkeit in die Praxis der Achtsamkeit einzubeziehen.

Man könnte über jede einzelne dieser Haltungen ein ganzes Buch schreiben, denn sie sind sehr komplex und können aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Dieser Beitrag soll jedoch einen Überblick geben und ist deshalb auf die Kernaussagen beschränkt.

Buddha als Symbol für die Haltungen der Achtsamkeit

Im Anfängergeist halten wir den Geist frei von Ansichten, Meinungen und Erwartungen.

Anfängergeist

Oft sind wir nicht in der Lage, uns unvoreingenommen auf etwas einzulassen, weil uns unsere eigenen Erfahrungen im Wege stehen. Unser Gehirn prüft bei allem, was uns begegnet, ob das Erlebte bereits bekannt ist. Sobald es Ähnlichkeiten zu entdecken glaubt, werden die früher gemachten Erfahrungen auf die aktuelle Situation projiziert und wir handeln so, wie es sich bislang für uns bewährt hat – was stets zu gleichen Ergebnissen führt. Damit nehmen wir uns die Möglichkeit neuer Erfahrungen und können unsere Handlungspielräume nicht erweitern.

Angeblich war es Albert Einstein, der diesen Sachverhalt mit den Worten beschrieb:

Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.

Im Anfängergeist halten wir den Geist frei von Erwartungen. Wir lassen uns vorurteilsfrei auf Personen, Dinge und Situationen ein, als erlebten wir sie zum ersten Mal. Diese innere Haltung ist von Offenheit, Neugier und Unvoreingenommenheit gekennzeichnet.

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Nicht-urteilen (Nicht-bewerten)

Diese Qualität wird entwickelt, indem wir die Haltung eines unparteilichen Beobachters einnehmen. Wir beobachten mit einem gewissen Abstand die Neigung, innere Erfahrungen zu kategorisieren und blitzschnell in Schubladen von „angenehm“ oder „unangenehm“ verschwinden zu lassen (was gewöhnlich dazu führt, automatisch-unbewusst darauf zu reagieren).

Der Lohn des Übens besteht darin, sich zunehmend weniger mit den Geschehnissen zu identifizieren und stattdessen mehr Objektivität, Situationsangemessenheit und Selbstbestimmtheit ins eigene Handeln zu bringen.

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Akzeptanz

Akzeptieren bedeutet anzuerkennen, dass eine Situation oder einen Sachverhalt so ist, wie er gerade ist. Oft vergrößern wir nämlich eine Problematik, indem wir Widerstände gegen einen momentan nicht veränderbaren Status quo aufbauen. „Es ist, wie es ist“, könnte ein Mantra für solch eine Situation lauten.

Das bedeutet nicht, dass wir gutheißen, was uns da gerade widerfährt. Es ist vielmehr die bewusste Entscheidung, das Geschehen mit unseren spontanen hitzigen Gedanken und Gefühlen nicht weiter (sinnlos) anzuheizen.

Eine Situation anzuerkennen, wie sie gerade ist, schafft eine innere Distanz. Im Raum dieser Distanz können wir überlegen, wie wir aus einer Position der Ruhe, Kraft und Weisheit heraus mit der Situation umgehen wollen.

Zitat Doris Kirch zu den Haltungen der Achtsamkeit

Scheinbare Widersprüche des Lebens lösen sich im Praktizieren von Achtsamkeit auf.

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Nicht-streben

In dieser Qualität scheint es einen Widerspruch zu geben, denn sie fordert uns zu einer Vorgehensweise auf, die man als „ziellos zum Ziel“ beschreiben könnte. Durch Nachdenken löst man diesen scheinbaren Widerspruch nicht auf – er erschließt sich nur im Tun selbst.

Unabhängig von übergeordneten Absichten und Zielen, geht es vor allem um die innere Haltung, im Hier und Jetzt präsent zu sein und anzuerkennen, wo wir gerade sind und wie wir gerade sind.

Wenn du eine Grippe hast, möchtest du natürlich bald wieder gesund sein. Aber solange du dein Kranksein ablehnst und nur jammerst, endlich wieder gesund sein zu wollen, überhörst du die Stimme des Körpers, die dir mitteilt, was er jetzt braucht, um wieder gesund zu werden. Nimmst du hingegen dein Unbehagen wahr und kümmerst dich mitfühlend und fürsorglich um deine Bedürfnisse, förderst du aktiv deine baldige Genesung.

Verbeißen wir uns in ein fixiertes Ziel, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Zustand in einer imaginären Zukunft. Damit verlieren wir den einzigen Moment, in dem wir tatsächlich etwas bewirken können: den gegenwärtigen Moment.

Sanduhr als Zeichen für Anfängergeist

Achtsamkeit ist mehr als Aufmerksamkeit.

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Seinlassen (Nicht-anhaften)

Nicht-Anhaften wird bisweilen auch als Loslassen bezeichnet. Loslassen bedeutet aber nicht wegwerfen. Im Laufe unseres Lebens haben wir unvermeidlich bestimmte Ansichten, Denkmuster und Verhaltensweisen entwickelt – weil sie sich oft als hilfreich erwiesen haben.

Wiederholen wir sie im Laufe eines Lebens immer und immer wieder, werden sie unbemerkt zu einem Automatismus, der bei bestimmten Reizen automatisch anspringt. Dabei schert er sich leider nicht um die Situationsangemessenheit. Zudem wirken diese inneren Muster wie eine verschmierte Brille: sie trüben die klare Sicht auf die Realität.

Wir nutzen unsere Achtsamkeitspraxis, um zu bemerken, wann so etwas geschieht. In der Haltung des Seinlassens erfahren wir unsere Freiheit, solchen festgefahrenen und verhärteten Denkweisen und Handlungsmustern nicht mehr krampfhaft zu folgen.

Statt uns selbst ängstlich in unseren verkrusteten Strukturen gefangenzuhalten, erforschen wir sie und erlauben uns, sie infrage zu stellen und sie erforderlichenfalls loszulassen. Auf diese Weise halten wir den Geist frei für neue Erfahrungen und können selbstbestimmter und angemessener mit dem umgehen, was im gegenwärtigen Moment geschieht.

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Geduld

Eine geduldige, gelassene innere Haltung erkennt an, dass alles im Leben seine Zeit hat und dass sich alles entfaltet, wenn der richtige Moment dafür gekommen ist.

Für unsere tägliche Achtsamkeitspraxis bedeutet das: wir üben uns in Gelassenheit, anstatt wie ein „Jack in the Box“ sofort auf jeden Reiz anzuspringen. Im Kleinen wie im Großen besinnen wir uns darauf, den Dingen die Zeit zu gewähren, die sie brauchen und kultivieren Besinnung, innere Ruhe und Ausgeglichenheit.

Geduld ist das Vertrauen, dass alles kommt, wenn die Zeit dafür reif ist.

Doris Kirch

Tropfen, der ins Wasser fällt - Symbol für Geduld

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Vertrauen

Manche Menschen sind so vom Zuspruch und der Meinung anderer abhängig, dass sie verlernt haben, ihre innere Stimme zu hören, die ihnen sagt, was ihre eigene Realität und Wahrheit ist. Indem wir die Haltung des Vertrauens stärken, orientieren wir uns nicht mehr blind an den Meinungen und Vorgaben anderer, sondern vertiefen zunehmend das Vertrauen in unsere eigene innere Weisheit.

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Dankbarkeit

Wer von Dankbarkeit erfüllt ist, ist frei von schwierigen Emotionen wie Wut, Neid, Hass, Eifersucht – denn man kann nicht beides zugleich fühlen. Alleine diese Tatsache ist es bereits wert, die Haltung des Dankbar-Seins zu fördern.

Es geht hier nicht um Dankbarkeit als Lippenbekenntnis oder gesellschaftliche Floskel. Echte, aufrichtige Dankbarkeit entsteht aus einer Erkenntnis der gegenseitigen Bedingtheit. Das bedeutet: All unser Hab und Gut, unser Job, aber auch Sonnenlicht und -wärme – und sogar unser eigenes Leben hingen und hängen fortwährend von bestimmten Bedingungen ab.

Besonders deutlich wird dies am Beispiel unserer Nahrung. Mach dir einmal bewusst, wie viele Bedingungen zusammenkommen mussten und wie viele Hände nötig waren, damit du heute dein Mittagessen auf dem Tisch stehen hast. Angesichts der Fülle dieser Bedingtheiten taucht Dankbarkeit ganz natürlich von selbst auf.

Dankbarkeit ist das universelle Heilmittel gegen jede Form von seelischem Schmerz.

Doris Kirch

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Großzügigkeit

Großzügigkeit ist das natürliche Bedürfnis, zum Glück anderer Wesen beizutragen. Es heißt, dass es das eigene Glück mehre, wenn man zum Glück anderer beiträgt. Ob das eine esoterische Sprechblase oder Wahrheit ist, lässt sich leicht herausfinden, indem man großzügig ist :o)

Wir sollten diese innere Haltung der Achtsamkeit nicht kultivieren, um uns selbst als großzügige Person zu beweihräuchern. Großzügigkeit ist, wie Dankbarkeit auch, bedingungslos. Auch sie entspringt der Erkenntnis der Verbundenheit alles Lebendigen. Ganz natürlich entstehen aus der Erfahrung, mit allem Lebendigen verbunden zu sein, Mitgefühl und das Bedürfnis, sich um andere zu kümmern.

Alles Gute in der Welt entsteht durch den Wunsch, andere glücklich zu machen. (Zitat Doris Kirch)

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3 Tipps, um die Haltungen der Achtsamkeit zu kultivieren

Wenn du in Büchern (oder hier im Internet) über diese geistigen Qualitäten liest, wirst du eine erstaunliche Erfahrung machen: Das Wissen darüber verändert wenig. Achtsamkeit muss praktiziert werden, um ihre segensreichen Früchte hervorzubringen. Erst im Tun wirst du erleben, dass sich die Beziehungen zu dir selbst, zu anderen und zum Leben schlechthin positiv verändern.

Diese Wandlung geschieht vor allem durch eine Veränderung deiner inneren Einstellungen, die du als Haltungen deiner Achtsamkeitspraxis in deinem Leben zum Ausdruck bringst.

Tipp 1: Wähle eine Haltung der Achtsamkeit aus

Suche dir zunächst eine Haltung aus, zu der du den besten Zugang hast oder die dich am meisten anspricht und übe gezielt eine Woche lang damit. Richte im Laufe des Tages immer wieder deine Aufmerksamkeit auf diese Qualität.

Dabei wirst du feststellen: Indem du diese eine Qualität bewusst entwickelst, stärkst du auch die anderen. Deshalb musst du auch nicht ständig alle geistigen Haltungen der Achtsamkeit parat haben.

Tipp 2: Notiere deine Erfahrungen in einem Achtsamkeitstagebuch

Weil Gedanken leicht flüchtige Erscheinungen sind, ist es hilfreich, wenn du deine Erfahrungen in einem Achtsamkeitstagebuch notierst. Schreiben schafft Bewusstsein. Du musst keine Romane verfassen; es reichen stichwortartige Notizen. Die folgenden Leitfragen können dir helfen, deine inneren Erfahrungen zu strukturieren.

  • Beschreibe das Ereignis zunächst in Stichworten.
  • War ich mir des Erlebnisses während des Geschehens bewusst?
  • Das habe ich während des Geschehens körperlich wahrgenommen?
  • Welche Stimmungen, Gefühle und Gedanken habe ich während des Erlebnisses wahrgenommen?
  • Welche Gedanken, Gefühlsregungen und Körperempfindungen nehme ich JETZT wahr, während ich dies schreibe?

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Tipp 3: Nutze die Kraft des Vorbilds

An einem „lebenden Objekt“ lernt es sich besser, als durch das geschriebene Wort. Suche dir deshalb ein lebendiges Vorbild.

Eines meiner inspirierendsten Vorbilder war mein Lehrer Jon Kabat-Zinn, Urheber des MBSR-Programms. In seiner Nähe, beim Unterricht, in der Meditation, bei den gemeinsamen Mahlzeiten und sogar in den Zeiten des Schweigens habe ich mehr über die Verkörperung der Haltungen der Achtsamkeit gelernt, als es aus Büchern je hätte möglich sein können.

Bitte denke daran, dass ein Lehrer auch (nur) ein Mensch ist und das Unvollkommenheit zum Menschsein dazugehört.

Die Haltungen der Achtsamkeit, erläutert von Jon Kabat-Zinn

In den folgenden Beiträgen spricht Jon Kabat-Zinn über jeweils eine der Geisteshaltungen der Achtsamkeit.

Einführung in die Haltungen der Achtsamkeit

Anfängergeist – Beginner’s Mind

Nichturteilen – Non-Judging

Akzeptanz – Acceptance

Nichtstreben – Non Striving

Seinlassen – Letting Go

Geduld – Patience

Vertrauen – Trust

Dankbarkeit und Großzügigkeit – Gratitude and Generosity