Die Atemraum-Übung ist eine kurze aber effektive Achtsamkeitsmeditation. In Momenten von Stress hilft sie, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht zu unbedachten Reaktionen hinreißen zu lassen. Wende die Atempause in emotional belastenden Situationen an und vermeide, im Strudel überbordender Gefühle zu versinken.
Was ist die Atemraum-Übung?
Unter dem Begriff Atemraum findet man verschiedene Übungen – was eine Definition und Abgrenzung erfordert, weil die Anleitungen teilweise unterschiedliche Ziele und Vorgehensweisen haben. Die Übung, um die es in diesem Beitrag geht, hat ihren Ursprung in der buddhistisch basierten Achtsamkeitspraxis. Sie ist auch unter diesen Bezeichnungen bekannt:
- Atempause-Übung
- 3-Minuten-Atemraum
- Breathing Space
Es handelt sich um eine kurze schrittweise Achtsamkeitsübung für den Alltag, die aus der Entwicklung von MBSR, einem achtsamkeitsbasierten Programm zur Stressreduktion und MBCT, einer achtsamkeitsbasierten Therapie zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen hervorgegangen ist.
Selbstbestimmt und glücklich leben aus der Kraft der Achtsamkeit
Finde deine innere Wahrheit und lebe sie authentisch und frei.
Ablauf der Atempause-Übung
Klassisch wird die Übung in drei Schritten oder Phasen angeleitet. Ich setze jedoch noch einen Schritt davor, ohne den das Ganze gar nicht erst stattfinden kann: Es ist das
Stoppen und Innehalten
in dem Moment, in dem erste Anzeichen von Unbehagen, Anspannung oder Irritation bemerkt werden.
1. Schritt: Bewusst werden
Unterbrich, was immer du gerade tust, indem du eine würdevolle, aufrechte Haltung einnimmst. Wenn möglich die Augen schließen und die Aufmerksamkeit auf dein inneres Erleben richten. Am besten nimmst du dazu die Position eines neutralen Beobachters ein, der nicht handelt, sondern nur registriert. Was kannst du gerade wahrnehmen?
- Stelle fest, welche Gedanken dir durch den Kopf gehen.
- Wende dich auch dem Unbehagen und möglichen schwierigen Emotionen zu und erkenne an, dass sie da sind.
- Registriere auch aufmerksam und interessiert die Empfindungen in im Körper. Kannst du irgendwelche Anspannungen feststellen? In welchem Bereich des Körpers drückt sich das Unbehagen gerade am deutlichsten aus?
Widerstehe der Versuchung, irgendetwas verändern zu wollen, sonst fällst du sofort wieder vom Modus des heilsamen beobachtenden Seins in den Modus des reaktiven Tuns zurück.
2. Schritt: Sammeln
Lasse die Wahrnehmung für die Gedanken, Emotionen und Körperempfindungen in den Hintergrund treten und richte die Aufmerksamkeit dort hin, wo du im Moment deinen Atem im Körper am deutlichsten fühlen kannst. Vielleicht kannst du das Vor- und Zurückschwingen der Bauchdecke spüren?
Bleibe bei der Beobachtung der Empfindung, die der ein- und ausströmende Atem im Körper erzeugt. Der Atem wird dabei nicht beeinflusst! Schaue dir absichtslos beim Atmen zu; lasse einfach zu, geatmet zu werden. Wenn dein Geist auf Wanderschaft gehen sollte, dann bringe ihn sanft und geduldig zur Beobachtung der Atemempfindung zurück. Tue nichts, außer zu atmen.
3. Schritt: Ausweiten
Tritt nun bewusst in die letzte Phase ein, indem du dein Bewusstsein vom Atem aus auf den gesamten Körper ausweitest. Spüre den gesamten Körper; beziehe alles mit ein, auch deine Haltung und deinen Gesichtsausdruck. Wenn du dabei auf Unbehagen oder Widerstände stöpt, bringe den Fokus direkt dort hin und atme absichtslos in den jeweiligen Bereich hinein. Nichts forcieren, einfach atmen und zulassen, dabei weit und weich zu werden.
Dehne deine Aufmerksamkeit nun über den Körper in den Raum hinaus aus und nimm die Kraft der zentrierten Achtsamkeit mit in die folgenden Aktivitäten.
Anleitung zur Atemraum-Übung anhören
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5 wichtige Hinweise zum Praktizieren des Atemraums
1. Übung macht auch hier den Meister
Ob und wie schnell es dir gelingt, aufkeimendes Unbehagen zu registrieren und den Prozess mit Hilfe der Atemraumübung zu stoppen, ist eine Sache von Training. Am besten trainierst du diese Fähigkeit, wenn du sie nicht brauchst. Du wirst gute Fortschritte machen, wenn du die Atempause dreimal täglich übst. Wenn du dann in eine kritische Situation gerätst, steht dir die Fähigkeit dieser Achtsamkeitsübung zur Verfügung, weil sie bereits fest in deinem Bewusstsein verankert ist.
2. Dauer der Atempause-Übung: 3 Minuten und das preußische Gehirn
Wie oben bereits angedeutet, wird diese Übung verschiedentlich auch „3-Minuten-Atemraum“ genannt. Ich halte das für keine gute Idee, denn erfahrungsgemäß kommt unser preußisches Gehirn mit Zahlenvorgaben in diesem Zusammenhang nicht sonderlich gut klar. Es beschäftigt sich während der Übung gerne fortwährend mit der Frage, ob die jeweilige Minute schon vorüber ist und fokussiert sich mehr auf die korrekte Einhaltung der Zeit als auf die Vorgehensweise.
Lass dir so viel Zeit, wie du jeweils brauchst. Anfangs wird es etwas mehr sein, aber je geübter du bist, desto schneller wirst du die Schritte im Geiste vollziehen. Doch werde nicht zu schnell! Kurze Übungen verleiten zum „Schludern“. Schnell wird aus einer strukturierten Bewusstseinsübung eine undifferenzierte Entspannungspause zum Seele-baumeln-Lassen. Die Wirkung der Übung wäre dadurch verfehlt.
3. Die Atempause ist keine „Atemmeditation“
Im Internet und in Büchern wirst du Anleitungen zu „Atemmeditationen“ finden, die Atempause oder Atemraum genannt werden. Bei Atemmeditationen wird der Atem in der Regel willentlich beeinflusst. Bei der Atemraumübung aus dem Achtsamkeitskontext geschieht genau das nicht!
Die besondere Wirkungsweise wird unter anderem dadurch erzielt, dass der Atem völlig in Ruhe gelassen wird. Wir schauen einfach dem Atem zu, wie er von selbst kommt und geht, ohne ihn zu beeinflussen.
4. Selbstbestimmtheit statt Entspannung
Viele Atempause-Übungen sind als „Entspannungsübung“ deklariert. Die Absicht im Kontext der Achtsamkeitspraxis ist jedoch eine andere. Hier geht es nicht darum, sich zu entspannen, sondern die geistigen Vorgänge zu erforschen und systematisch zu trainieren, aus unbewussten Verhaltensmustern auszusteigen. So lange man in dieser Vorgehensweise noch nicht geübt ist, kann sich das bisweilen sogar ziemlich unentspannt anfühlen.
Keine Bange: Du wirst entspannter – aber nicht dadurch, dass du Entspannung anstrebst. Das würde eher das Gegenteil bewirken. Die Entspannung ist eher die Folge eines tiefen inneren Verstehens und Loslassens, wie wir noch sehen werden. Wichtig ist an dieser Stelle schon einmal:
Praktiziere die Atempause nicht als „Entspannungsübung“. Nimm lieber ein heißes Bad, wenn du abschalten willst. Ansonsten vergeudest du das wertvolle Potenzial dieser wirkungsvollen Achtsamkeitsübung.
5. Wie reine Seide und scharfer Stahl
Die Metapher von reiner Seide und scharfem Stahl benutzte einst der legendäre Zen-Meister Shunryu Suzuki, um seinen Schülern etwas zu verdeutlichen. Sie passt auch zur Atemraum-Übung, denn um wirkungsvoll zu sein, muss sie den Tun-Modus wie eine scharfe Klinge durchtrennen. Erst wenn wir vollständig aus dem Tun-Modus des Agierens herausgetreten und in den Sein-Modus des Nicht-Tuns eingetreten sind, kann die Übung ihre Wirkung entfalten.
So klar und unmissverständlich dieser Akt auch ist, wir führen ihn in einer sanften inneren Haltung uns selbst gegenüber durch. Wie reine Seide gehen wir mitfühlend mit uns um, wenn wir uns unseren verwirrten und schmerzhaften Empfindungen, Gedanken und Emotionen zuwenden. Lassen wir diese Sanftheit missen, verfehlen wir auch hier das Ziel. Dann verkommt die wunderbare Atemraumübung zu einer wirkungslosen Mentalgymnastik.
Absichten und Wirkungen der Atemraum-Übung
Vom Tun-Modus in den Sein-Modus
Jeder von uns kennt die Erfahrung, dass in stressigen und emotional belastenden Situationen schnell und unbewusst psychische Programme das Ruder übernehmen. Oft lassen wir uns dann wie ferngesteuert zu Reaktionen hinreißen, über die wir später nur noch verständnislos den Kopf schütteln. Der Autopilot ist schnell aber nicht besonders klug. Und so finden wir uns bisweilen in Situationen wieder, die wir gar nicht haben wollten.
Hier setzt die Atempause-Übung an. Sie basiert auf der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, dass es im Gehirn zwischen einem Stressreiz (zum Beispiel jemand fährt auf der Straße zu langsam vor uns her) und unserer Reaktion darauf, einen klitzekleinen Raum gibt, in den wir eingreifen und die Geschicke steuern können, anstatt ihnen zum Opfer zu fallen. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl brachte diesen Sachverhalt in folgendem Zitat zum Ausdruck:
Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.
(Wegen dieses Raumes spreche ich auch lieber von der Atemraum-Übung als von einer Atempause-Übung – obwohl letzterer Begriff weiter verbreitet ist).
Diese kurze Achtsamkeitsmeditation, im Raum zwischen Reiz und Reaktion angewendet, kann uns davor bewahren, in kritischen Momenten den Kopf zu verlieren oder von Emotionen übermannt zu werden. Mit Hilfe der achtsamen drei Schritte können wir selbstbestimmt und handlungsfähig bleiben und haben mehr Bewusstsein für sinnvolle Handlungsoptionen.
Das ist hilfreich bei Depressionen, um den Beginn einer neuen Episode zu erkennen und zu stoppen und es ermöglicht uns einen flexibleren Umgang mit Stress und anderen herausfordernden Situationen.
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Liebe Frau Kirch,
die Beschreibung war für mich eine große Hilfe und ich werde dem “ 3 Minuten Atemraum“ nun neu begegnen. Danke.
Grüße Carola
Liebe Carola,
ich freue mich, dass du mit meinem Beitrag zur Atemraum-Übung so viel anfangen kannst. Möge sich diese Übung zu deinem Besten entfalten.
Aloha,
Doris