Tiefes Zuhören (Deep Listening) ist Teil der achtsamen Kommunikation, und es kann für deine zwischenmenschlichen Beziehungen von unschätzbarem Wert sein. Lerne, mit Überlegung zu reden und mache diese Übung zu einer wirkungsvollen Achtsamkeitspraxis im Alltag.

Ein weiser Mensch hört mehr als er spricht.
(Taoistische Weisheit)

Was ist ‚tiefes Zuhören‘?

Aktives Zuhören in der modernen Psychologie

Tiefes Zuhören wird oft verglichen mit dem aktiven Zuhören aus der Kommunikationspsychologie, das vor allem durch den humanistischen Psychologen Carl Rogers geprägt wurde. Aktives Zuhören gilt als spezielle „Technik“ und als zentraler Bestandteil einer effektiven Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen, in Beratungsgesprächen und für Konfliktlösungen.

Als wichtigste Elemente der Technik des aktiven Zuhörens gelten:

  • Aufmerksamkeit zeigen durch Mimik und Körpersprache
  • Nachfragen
  • Zusammenfassen
  • Paraphrasieren
  • Gefühle spiegeln

Ohne Frage trägt diese „Methodik“ zu einer effektiven und respektvollen Kommunikation bei. Aber interessant ist, dass es in der Technik des „aktiven Zuhörens“ per definitionem offenbar mehr ums Reden als ums Zuhören geht. „Von hinten durch die Brust ins Auge“ sozusagen, wird der Fokus vom reinen Zuhören direkt wieder abgezogen und darauf gelenkt, was man als nächstes nachfragen, zusammenfassen, paraphrasieren oder spiegeln will.

Die Kunst des achtsamen Zuhörens aus der buddhistischen Psychologie geht hier jedoch viel tiefer. Sie vermag es, uns in der Tiefe unseres Menschseins wirklich zu berühren.

Mehr innere Haltung als Technik: Die Buddhistische Kunst des Zuhörens

Zu den Grundlagen der buddhistischen Lehre gehört der Aspekt des „achtsamen Redens“. Der Buddha hat den Wert einer achtsamen Kommunikation für den inneren Frieden – aber auch für den äußeren Frieden – klar erkannt. Das tiefe (achtsame) Zuhören spielt dabei eine besonders wichtige Rolle.

Tiefes Zuhören bedeutet, beim Zuhören vollständig präsent zu sein. Wir machen uns in unserem Zuhören dem anderen sozusagen zum Geschenk.

Die einfachste Art einen Menschen zu ehren ist, ihm zuzuhören.

Vollständig präsent zu sein, bedeutet, den Worten des anderen vorurteilsfrei, offen, mitfühlend und nicht-reaktiv zu lauschen. Und ich sage bewusst „lauschen“. Denn die Art des Zuhörens, von der hier die Rede ist, ist nicht auf die gesprochenen Worte beschränkt.

Wenn wir lauschen, sind wir quasi auf Empfang gestellt. In diesem Zustand von Präsenz sind viel mehr Empfangskanäle in uns geöffnet, als nur die Ohren –  wir nehmen mit dem ganzen Körper wahr. Auf diese Weise können wir viel mehr Informationen unseres Gesprächspartners aufnehmen:

  • Worte, die gewählt werden
  • Was gesagt wird und was nicht gesagt wird
  • Sprechpausen
  • Lautstärke, Tempo und Intensität der Stimme
  • Körperhaltung und Körperspannung
  • Bewegungen
  • Gesichtsausdruck; Gesichtsfarbe
  • Energetik

Meine Erfahrung ist, dass wir diese Informationen eines Gesprächspartners sowieso aufnehmen. Bei den meisten Menschen geschieht das jedoch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Dadurch ist die Wahrscheinlichkeit groß, auf etwas reagieren, was zwar nicht gesagt – aber wahrgenommen wurde: „Ich höre was, das du nicht sagst“. Solange diese Vorgänge unbewusst sind, können sie in der Kommunikation für einiges an Verwirrung sorgen.

In der Kommunikation geht es immer darum, einen anderen wirklich zu verstehen – und zwar nicht nur auf der rein kognitiven Ebene, sondern auch auf der Ebene unseres gemeinsamen Menschseins. Die Art dieses Zuhörens ist von menschlicher Wärme und Interesse am anderen geprägt.

Tiefes Zuhören – Eine Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl

Einer der bekanntesten buddhistischen Vertreter des tiefen Zuhörens war der Mönch Thich Nhat Hanh. Er hat stets betont, dass achtsames Zuhören (deep listening) eine Form von Liebe und Mitgefühl ist. Indem wir uns ohne Ablenkung ganz auf einen anderen Menschen einlassen und ihm aus vollem Herzen zuhören, geben wir ihm die Zeit und den Raum, sich vollständig auszudrücken. So etwas kann nicht nur klärend für diese Person sein, sondern auch entlastend und befreiend.

Mit ganzem Herzen präsent sein

In einem Gespräch mit ganzem Herzen präsent zu sein, erfordert von uns, uns zurückzunehmen. Wir halten uns zurück, augenblicklich jeden Gedanken mitzuteilen, der ins uns auftaucht, bei dem, was wir hören. Wir halten uns mit unseren Erinnerungen, Meinungen und Ansichten zurück.

Wann immer wir registrieren, dass unser Zuhören durch eigenes inneres Gesabbel überlagert wird, oder dass Impulse auftauchen, unseren „Senf dazuzugeben“, nehmen wir Zuflucht beim Atem und kehren zur reinen Wahrnehmung des Hörens zurück.

Ich finde das in manchen Situationen nicht leicht. Vor allem, wenn mich die Worte des anderen emotional sehr berühren oder sie Widerstand in mir aufbringen, besteht mein Zuhören zum großen Teil darin, mich selbst zu regulieren und von Moment zu Moment immer wieder in die lauschende, vorurteilsfreie Präsenz zurückzukehren. Aber das ist ganz normal. Es ist der natürliche Prozess einer Achtsamkeitspraxis, die das tiefe Zuhören mit einschließt.

Eine volle Teetasse als Beispiel für einen vollen Geist

Vom Teetrinken und Zuhören

Mit dem Zuhören ist es wie mit dem Teetrinken: Wenn deine Tasse leer und sauber ist, kannst du klar und deutlich hören, was der andere sagt. Steht deine Tasse aber auf dem Kopf, dann hast du kein Interesse, dem anderen wirklich zuzuhören.

Hat deine Tasse einen Riss, sickert der Tee durch den Spalt: du kriegst nur einen Teil von dem mit, was der andere sagt, weil du mit deiner Aufmerksamkeit ganz woanders bist.

Und wenn deine Tasse bereits voll ist, dann bist du angefüllt mit deiner eigenen Geschichte, vermischst sie mit der des anderen und bastelst so lange daran herum, bis sie deckungsgleich sind.

Wie achtsames Zuhören deine Beziehungen verändert

Vor kurzem sind die Großeltern meiner jüngsten Tochter im Alter von 95 Jahren gestorben. Ich habe sie sehr geliebt. Sie waren ostfriesische Landwirte, bei denen immer irgendjemand in der Küche saß und einen Tee genoss oder einen Eierlikör schlabberte. Bis zu ihrem Tode kamen Freunde und Nachbarn zu Besuch, denn jeder mochte sie gerne.

Wenn ich mich frage, was das Geheimnis ihrer vielen erfüllenden Beziehungen war, dann ist das für mich vor allem ihre Fähigkeit, achtsam zuzuhören. Ihre innere Haltung anderen gegenüber war bemerkenswert besonnen, geduldig, freundlich, offen und vorurteilsfrei. Deshalb fühlte sich jeder in ihrer Gegenwart wohl.

Solch eine empathische innere Haltung fördert das Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen und reduziert Missverständnisse und Konflikte.

Thich Nhat Hanh: Heilung durch Präsenz

Der Mönch Thich Nhat Hanh hat tiefes Zuhören (Deep Listening) als eine Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl beschrieben. Denn Zuhören dient nicht nur dem Austausch sachlicher Informationen – es kann auch Heilung sein.

Heilung durch achtsames Reden und tiefes Zuhören

An dieser Stelle möchte ich den oben bereits erwähnten Psychologen Carl Rogers zu Wort kommen lassen:

„Wenn dir jemand wirklich zuhört, ohne dich zu verurteilen, ohne dass er den Versuch macht, die Verantwortung für dich zu übernehmen oder dich nach seinem Muster zu formen – dann fühlt sich das verdammt gut an. Jedes Mal, wenn mir zugehört wird und ich verstanden werde, kann ich meine Welt mit neuen Augen sehen und weiterkommen.

Es ist erstaunlich, wie scheinbar unlösbare Dinge doch zu bewältigen sind, wenn jemand zuhört. Wenn sich scheinbar unentwirrbare Verstrickungen in relativ klare, fließende Bewegungen verwandeln, sobald man gehört wird.“

Für Thich Nhat Hanh ist unsere vollständige Präsenz das wichtigste Geschenk, das wir jemandem machen können. Das bedeutet, alle inneren Dialoge und Urteile loszulassen und einfach nur da zu sein – im gegenwärtigen Moment. In dieser Präsenz kann Heilung geschehen, weil der Sprechende sich gehört und verstanden fühlt.

Warum tiefes Zuhören mehr ist als das Hören von Worten

Tiefes Zuhören in der Praxis: Ein Weg zum Frieden

Thich Nhat Hanh glaubte, dass viel Leid in der Welt aus dem Gefühl entsteht, nicht gehört oder verstanden zu werden. Tiefes Zuhören kann Brücken bauen, Missverständnisse klären und sogar langjährige Konflikte befrieden.

Er hat diese Praxis deshalb auch als Friedensinstrument in zwischenmenschlichen und politischen Konflikten verstanden. Er sagte dazu: „Wenn wir mit Mitgefühl zuhören, helfen wir dem anderen, sein Leid zu lindern. Sogar wenn wir nichts sagen, heilt unser Zuhören bereits.“

Hören wir einander nicht zu, fördern wir ein von Verfolgungswahn und Misstrauen geprägtes Umfeld. Du hast Zweifel daran, dass das so ist? Dann schaue einfach auf das weltpolitische Geschehen.

Der spirituelle Wert des Zuhörens – Tiefe Erkenntnis durch Nicht-Reden

Lange Zeit in meinem Leben war Kommunikation für mich nicht viel mehr als Mittel zum Zweck, um mit Menschen in Beziehung zu sein. Bis mich ein Ereignis lehrte, dass zumindest das achtsame Zuhören auch eine spirituelle Dimension in sich trägt.

Vor vielen Jahren hatte ich die wunderbare Möglichkeit, fünf Tage lang zu Füßen des Dalai Lama zu sitzen und seinen Belehrungen zu lauschen. Die Veranstaltung fand im Hamburger Rothenbaum-Stadion statt. Rundherum herrschte ein enormer Krach: Autolärm, Sirenen, Hubschrauber und Geschrei von einem naheliegenden Kindergarten. Und dann standen auch noch mitten in den Belehrungen Seiner Heiligkeit Leute auf, um sich ein Getränk zu holen.

Ich war angenervt von dem Lärm, von der Respektlosigkeit der Anwesenden, von meinem unbequemen Sitz und dem kalten Wind, der an diesen Tagen durch das Stadion zog. In fünf Tagen sollten die „Vierhundert Verse des Aryadeva“ behandelt werden.“

Der Dalai Lama hielt sich lange bei dem ersten Vers auf und ich kam tatsächlich auf die Idee, auszurechnen, wie viele Monate wir für die 400 Verse brauchen würden, wenn er in diesem Tempo weitermachte.

Der Dalai Lama bei einem Vortrag

Doris Kirch und ihre Erfahrung des tiefen Zuhörens mit dem Dalai Lama

Erwachen durch Loslassen

Kurz und gut, ich war schwer mit mir beschäftigt. Erst im Laufe des zweiten Tages erlahmte mein innerer Widerstand und es gab den Moment, wo ich meine Vorstellungen davon, wie die Dinge zu laufen hatten, loslassen konnte.

In diesem Moment traf mich ein inneres Erwachen. Ich blicke nach vorne auf den Platz Seiner Heiligkeit – und sah ihn dort nicht … während ich jedoch seine Stimme hörte. Verwirrt schaute ich auf die großen Bildschirme links und rechts: dort sah ich ihn. Aber sein Platz war leer! Ich konnte ihn hören – aber seinen Körper nicht sehen, während eine innere Stimme sagte: „Der Dalai Lama ist weg – nur der Dharma (die Lehre) ist da.“

Und das war es auch, worum es dem tibetischen Oberhaupt seit jeher ging: Er wird nicht müde zu betonen, dass nicht er wichtig sei, sondern nur der Dharma. Und für mich war er tatsächlich „weg“, während seine Stimme mich im Lauschen vollkommen erfüllte.

Spirituelle Transformation durch tiefes Sich-Einlassen

Seine Worte erreichten mein Herz und ein Gefühl von Wärme und ein tiefes inneres Wissen breiteten sich in mir aus. Alle äußeren Eindrücke traten in den Hintergrund und wurden völlig bedeutungslos – ich war nur noch „Lauschen“.

Der Zustand hielt bis zum Ende der fünf Tage an. Es ist schwer zu beschreiben, was da in mir geschah – aber es hat mich zutiefst transformiert zurückgelassen. Dreh- und Angelpunkt dieser Erfahrung war mein Einlassen auf das Zuhören.

Was erschwert es, achtsam zuzuhören?

Wie so oft im Leben ist es auch hier wieder unser eigenes Ego, das uns im Wege steht. Dieses Ego ist ein Bollwerk aus Selbstgerechtigkeit und festgefügten Denkmustern und Verhaltensweisen. Sie entstehen aus unserer eigenen Verletzlichkeit und Unsicherheit.

Es konstruiert „toxische Gewissheiten“ und sorgt dafür, dass wir uns nie in Frage stellen. Wir haben klare, unumstößliche Vorstellungen von richtig und falsch und wir glauben zu wissen, wie Menschen und Dinge sind und wie sie zu funktionieren haben.

Diese auf Überzeugungen basierenden Standpunkte gaukeln uns eigene Überlegenheit vor: Unsere Tasse ist bereits voll. Zumindest ist sie nicht sauber, steht auf dem Kopf oder hat Risse und wir sind nicht in der Lage, aufzunehmen, was der andere uns mitteilen möchte.

5 Tipps für tiefes Zuhören

1. Zentriere dich

Um präsent sein zu können, ist es wichtig, dich zu zentrieren. Nimm Zuflucht zur Atemempfindung im Körper und lass deinen Geist einen Moment lang auf den Wellen des Atems zur Ruhe kommen.

2. Lass dein Ego los

Lass die Idee los, dass du weißt, wie die Dinge sind und wie sie zu laufen haben.
Du brauchst nicht zu allem deinen Kommentar dazuzugeben und du musst auch nicht auf alles eine Antwort haben.

Der Weise spricht, wenn er etwas zu sagen hat; der Narr spricht, weil er etwas sagen muss.
(Sokrates)

Der Weise versteht. Nur der Dumme macht über alles eine Bemerkung.
(Konfuzius)

3. Vermeide es, zu urteilen

Richte dich immer wieder an den inneren Haltungen der Achtsamkeitspraxis aus – vor allem an Vorteilsfreiheit, Anfängergeist, Offenheit, Geduld und Mitgefühl. Versuche, den Bezugsrahmen des anderen zu verstehen, auch wenn du ihn nicht teilst.

4. Praktiziere bewusst Schweigen und Entschleunigung

Verstehen entsteht oft durch Stille und Nicht-Tun.

5. Nutze den Atem als Anker

Bring die Aufmerksamkeit immer wieder zum Atem zurück, wenn du merkst, dass du dich in eigenen Gedanken und Gefühlen verstrickst.

Übung in achtsamem Zuhören

Alles, was wir sagen, ist Ausdruck unseres Geistes. Wenn wir etwas von uns geben – geben wir auch immer etwas von uns. Der Psychologe Paul Watzlawick sagte dazu: „Wir können nicht nicht kommunizieren.“

Worte können verbinden, beruhigen und heilsam wirken; sie können aber auch irritieren, entzweien und verletzen. Deshalb sollten wir erst dann reden, wenn unser Herz ruhig und unser Geist klar sind.

Zu stoppen und innezuhalten, bevor du sprichst und auf dein Herz zu hören, gibt dir Klarheit darüber, ob das, was du aussprechen möchtest, aus einer lichten oder einer trüben Quelle gespeist ist und ob sich deine Worte voraussichtlich heilsam oder unheilsam auswirken werden.

Ist ein Mensch geboren, so entsteht ihm im Mund eine Axt, mit der er, wenn er üble Worte spricht, sich selber schlägt.
(Samyutta Nikaya 6,10)

Mach achtsames Miteinander-Reden zu deiner Achtsamkeitspraxis

  • Beginne dein Reden mit Zuhören – mit dem Lauschen auf dein Herz.
  • Komme vor dem Sprechen in Kontakt mit dir selbst. So vermeidest du gedankenloses Plappern.
  • Reflektiere innerlich kurz über deine Absicht, das Wort zu ergreifen. Passt das, was du sagen möchtest, durch die Drei Sieben des Sokrates: Ist es wahr? Ist es hilfreich? Ist es gut?

Der Gelehrte Matsubara sagte, dass wir beim Reden eines Menschen den „Schrittton seines Herzens“ vernehmen können. Unüberlegtes Gerede zeugt vom Schrittton eines verwahrlosten Herzens. Beim achtsamen Reden zeigt sich ein sanftmütiges, friedliches Herz.

Mach das sanfte, achtsame Reden und Zuhören zu deiner Achtsamkeitspraxis. Je öfter du auf diese Weise sprichst, desto mehr bändigst du deinen Mund und deinen unruhigen Geist.

© Doris Kirch

 


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