Wir brauchen eine neue Ethik, denn die Werte, die uns einst Orientierung in unserem Menschsein vermittelten, verlieren immer mehr an Bedeutung. Die wenigsten fühlen sich noch zu den dogmatischen Sollvorschriften früherer Zeiten hingezogen. Die Praxis der Achtsamkeit hingegen zeigt uns einen zeitgemäßen Weg zu mehr Bewusstsein und Menschlichkeit im Hier und Jetzt.
Der Schriftsteller Hermann Hesse schrieb bereits zu seinen Lebzeiten davon, „das Menschentum zu verkommen und zu verdorren“ meinen zu sehen. Ist das bis heute besser geworden? Der Blick auf die Welt zeigt: wohl kaum! Wir leben in modernen aufgeklärten Zeiten und dennoch bekämpft überall auf unserem Planeten unsere Spezies ihre eigene Art.
Was ist Ethik überhaupt?
Bei Ethik handelt es sich um Moralkodexe, die Orientierung für menschliches Handeln in einer Gemeinschaft bilden sollen. Um ein friedliches Miteinander zu regeln, geben sie Normen für Werte vor, für gut und böse, für richtig und falsch. Ethik gibt Antworten auf die Frage: Wie soll ich als Mensch handeln und an welchen Werten kann ich mich orientieren?
Eine allgemein menschliche Ethik gab es nie. Selbst der hohe moralische Wert, andere nicht zu töten, wurde (und wird) situationselastisch den jeweiligen Gegebenheiten angepasst.
Ethische und menschliche Werte werden auch heute noch gesellschaftlich, kulturell, religiös oder politisch unterschiedlich definiert. Vor allem in der Antike und im Mittelalter hatten Ethik und Moral einen hohen Stellenwert. Es wurden Tugenden formuliert und bestimmte Pflichten, Normen, Sitten und Gebräuche regelten das tägliche Leben. Nicht, dass sich immer jeder daran hielt, aber im Großen und Ganzen herrschte Klarheit darüber, was zu tun und zu lassen war, um das Boot der Gemeinschaft nicht zum Schaukeln zu bringen.
Der Verfall der Ethik in der heutigen Zeit
In unserer modernen Welt lösen sich diese ethischen Traditionen mehr und mehr auf. Wir können sehen, dass Moralsysteme auf Dauer keinen Bestand haben, die von Menschen fordern, gegen ihre eigenen Werte und Bedürfnisse zu handeln.
Zum Beispiel verlassen immer mehr Menschen ihren Job, wenn sie sehen, dass ihr Arbeitgeber Menschenwürde oder -gesundheit verletzt oder rücksichtslosen Raubbau an den Ressourcen der Erde betreibt. Zu Beginn der industriellen Revolution wäre es keinem Arbeitnehmer in den Sinn gekommen, solch ein Verhalten seines Unternehmens in Frage zu stellen und zu kündigen.
Wir können derzeit beobachten, wie rasant ethische Werte verfallen. Dieser Zerfall hinterlässt ein Werte-Vakuum, das vielen Menschen den Boden entzieht und sie in Verwirrung stürzt.
Warum wir die Orientierung verlieren
Dass ethische Grundlagen früherer Zeiten heute immer weniger Bedeutung haben, hat ganz verschiedene Ursachen. Eine davon scheint mir besonders wichtig und deshalb möchte ich sie herausgreifen. Es ist der Verlust des Bezuges zu sich selbst.
Im medialen Dauerbeschuss des Alltags einer sich ständig beschleunigenden „Just-in-Time-Gesellschaft“, wird es immer schwerer, „bei sich zu sein“. Doch wer nicht bei sich ist, verliert sich in der Welt. Er hat immer weniger Bezug zu dem, was für sein Wirken in Familie und Gemeinschaft wichtig ist – zu Liebe und Mitgefühl zum Beispiel. Der Fokus auf das Gute, Wahre und Schöne, auf die eigenen Werte, kommt zunehmend abhanden.
Was bedeutet es überhaupt, ein „guter Mensch“ zu sein?
Die Frage, was einen „guten Menschen“ ausmacht, ist wieder eine ethische Frage, über die sich Philosophen zu allen Zeiten die Köpfe zerbrochen haben. Mit dem Ergebnis: Es gibt auch hier keine allgemeingültige Beschreibung. Was Menschen als „gut“ bezeichnen, hängt vom jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen, kulturellen, politischen oder religiösen Kontext ab.
In unserem Kulturkreis definieren wir einen „guten Menschen“ anhand bestimmter Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Ein „guter Mensch“ ist für uns eine Person mit einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl, die respektvoll mit anderen umgeht – auch wenn es sich um jemanden handelt, der sich schwierig verhält. Kennzeichnend für einen „guten Menschen“ ist für uns auch jemand, der hilfsbereit ist und dem es ein Anliegen ist, die eigenen Interessen nicht über alles zu stellen, sondern sie auch in Einklang mit denen anderer zu bringen.
Achtsamkeit als Weg einer zeitgemäßen neuen Ethik?
Man muss kein Philosoph sein, um zu sehen, dass die Zeit der großen Moraltheorien vorbei ist. Und im Grunde waren all diese vergangenen dogmatischen Moraledikte weder für jedermann passend, noch jederzeit anwendbar. Es waren immer nur Hilfskonstrukte, um mit der Unwägbarkeit der menschlichen Natur und des Lebens irgendwie zurechtzukommen.
Achtsamkeit als neue Ethik: Situations-Ethik
Zur Zeit der Antike und des Mittelalters war das Leben relativ vorhersehbar. Heute wandelt unsere Realität sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Wir befinden uns in einer hyperkomplexen Welt, in der es nichts Älteres gibt, als die Information von gestern. Deshalb haben wir nicht viel Zeit, ausgiebig darüber zu philosophieren, was eine ethische Entscheidung oder ethisches Handeln ist.
Im Grunde haben wir nur den gegenwärtigen Moment. Der Wert unseres Menschseins entscheidet sich in dem Satz, der gerade über unsere Lippen kommt oder in unserer Reaktion auf einen mürrischen Menschen.
Wut in Freundlichkeit zu verwandeln oder Ungeduld in Gelassenheit, erfordert bewusstes Handeln in diesem Augenblick: „Wie kann ich jetzt als der Mensch handeln, der ich sein möchte?“; „Wie kann ich meine Werte in diesem Moment zum Ausdruck bringen?“
Das Leben besteht aus Momenten
Unser Leben besteht aus Momenten. Wenn wir diesen Moment verpassen, verpassen wir auch die Möglichkeit, als „guter Mensch“ ethisch zu handeln.
Was können wir tun, um ein ethisches Bewusstsein in der Welt zu fördern?
Der beste Weg, mehr Ethik die Welt zu bringen, besteht darin, sie selbst zu leben. Es ist nicht damit getan, sich vorzunehmen, ein „besserer Mensch“ zu werden oder zu sein. Es braucht ein intensives Engagement von Herz und Hirn und ein systematisches Training, um das Bewusstsein zu verändern.
Muss man dazu regelmäßig meditieren? Meditation ist auf jeden Fall hilfreich, Bewusstseinsstrukturen in gewünschte Richtungen zu verändern und geistige Ruhe und Klarheit zu finden.
Es gibt jedoch auch die sogenannte informelle Achtsamkeitspraxis, die dabei hilft, den inneren Fokus immer wieder neu auszurichten.
6 Achtsamkeitsübungen für den Alltag zum Stärken deiner Situations-Ethik
1. Tagebuchschreiben
Das muss keine tibetische Gebetsfahne werden – es reicht, wenn du abends stichwortartig den hinter dir liegenden Tag reflektierst. Stell fest, wo du als „guter Mensch“ gehandelt hast – und wo „noch Luft nach oben“ ist. Achte darauf, bei dieser Rückschau im Sinne der geistigen Haltungen der Achtsamkeit vorzugehen: Mit Offenheit und Freundlichkeit dir selbst gegenüber.
2. Dankbarkeit praktizieren
Dankbarkeit ist ein wunderbares Heilmittel gegen jede Form von Selbstüberheblichkeit. Ich halte abends, nachdem ich mich zu Bett begeben habe, gerne noch einen Moment inne und besinne mich auf all die Dinge, mit denen ich gesegnet bin und darauf, wo mir andere an diesem Tag freundlich und unterstützend begegnet sind.
3. Zuhören lernen
Menschliches Miteinander beinhaltet viel Sprengkraft. Wir können einiges davon entschärfen, indem wir uns angewöhnen, öfter innezuhalten und unserem Gegenüber aktiv zuzuhören, ohne gedanklich schon unsere Antwortsätze zu formulieren. Wem zugehört wird, der hat das Gefühl, verstanden zu werden. Das nimmt unnötige Schärfe vor allem aus schwierigen Gesprächen.
4. Schweigen und Stille pflegen
Öfter mal zu schweigen und in Stille zu sein hilft, den aufgewühlten Geist zu beruhigen. Zieh dich regelmäßig in ein Achtsamkeits-Schweige-Retreat zurück. Das schafft heilsamen Abstand vom Alltag und du kannst wieder mit dem in Berührung kommen, was dir wirklich wichtig ist.
5. Die geistigen Haltungen der Achtsamkeit im Alltag praktizieren
Beschäftige dich mit den buddhistischen Haltungen der Achtsamkeit. Sie helfen dir, deinen Geist immer wieder neu auf eine achtsame Situations-Ethik ausrichten.
6. Die kleinen Dinge des Alltags würdigen
Das „banale“ Gute und Schöne des Alltags ist nicht halb so banal, wie es auf den ersten Blick scheint. Schönheit ist nie nur oberflächlich – sie besitzt eine tiefe ethische Dimension. Richte deinen Fokus immer wieder aus, indem du Aufmerksamkeit und Hingabe für alltägliche Verrichtungen aufbringst. Achtsam Geschirr zu spülen oder zu bügeln, können so zu wirkungsvollen Achtsamkeitsübungen werden, die deine geistige Klarheit und Fokussierung fördern.
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Der Wert von Achtsamkeits-Ritualen im Alltag »»