Wenn du dir weniger Stress im Alltag wünschst, dann wirst du Yutori lieben. Yutori ist ein wirkungsvoller Ansatz zur Stressreduktion, der harmonisch zur Praxis von Achtsamkeit passt. In diesem japanischen Konzept geht es darum, bewusst zu vereinfachen und zu entschleunigen, um mehr Raum zu schaffen, in dem die Seele atmen kann.

Wer von uns kennt nicht diese Dauererschöpfung, vor die uns unser modernes, immer komplexer und temporeicher werdendes Leben stellt? Erst gestern sagte mir ein Freund, er wünschte sich mal wieder eine längere konstante Zeit ohne besondere Herausforderungen. Ja, das hätte ich auch gerne.

Viel sinnvoller scheint es hingegen, nach Wegen zu suchen, unsere geistige, seelische und körperliche Gesundheit zu erhalten – und insgesamt mehr Lebensqualität und Lebensfreude zu haben. Yutori könnte solch ein Weg sein.

Was bedeutet Yutori?

In der japanischen Sprache kann ein bestimmtes Wort in verschiedenen Kontexten eine unterschiedliche Bedeutung haben. Das ist auch bei dem Begriff Yutori der Fall. Im Kern bezieht er sich jedoch immer auf Raum und Weite. Im Yutori-Konzept geht es darum, aus blindem Aktionismus auszusteigen, bewusst zu entschleunigen und zu reduzieren und die Qualität des Augenblicks zu genießen.

Im Kontext von Achtsamkeit kann man Yutori als einen inneren Zustand von Zufriedenheit und Wohlbefinden beschreiben. Einen Raum, in dem die Seele atmen kann; ein „Sacred Space“ von Weite und Ruhe im gegenwärtigen Moment.

Yutori, die Samurai-Seele und der Stress im Alltag

Ich stolperte über das Konzept von Yutori, als ich mich mit dem Thema Stress beschäftigte – und zwar mit dem Stress, den unser unzeitgemäßes staatliches Schulsystem Schülern, Lehrern und Eltern macht.

Als Spitzenreiter in Sachen Schulstress gilt Japan. Hier fand in den 1980er Jahren ein Umdenken statt, nachdem sich mehrere Kinder wegen des Drucks in der Schule und beim Lernen das Leben genommen hatten. Man wollte im Zuge einer Bildungsreform den Bildungsstress reduzieren und strebte eine „Bildung ohne Druck“ an.

Das gefiel nicht allen. Der Begriff „Yutori-Bildung“ wird bisweilen verächtlich zur Beschreibung eines ineffizienten „verweichlichten“ Bildungssystems verwendet. Bis heute ist die japanische Schulpädagogik von der Spannung geprägt, zwischen einer Yutori-Erziehung, die Kindern geistigen Freiraum ermöglichen möchte und einer Erziehung, bei der überragende Schulleistungen als oberstes Ziel gelten.

Achtsamkeit, Yutori und Selbstsorge

Wer sich mit Achtsamkeit auskennt, dem fallen sofort die Paralellen zu Yutori auf. Yutori beinhaltet ein hoßes Maß an Achtsamkeit. Bei beidem spielen Bewusstsein, Selbstreflexion, Selbstfürsorge und ein gewisses Maß an Selbstdisziplin eine bedeutende Rolle.

Im Grunde ist Yutori auch weniger ein „Konzept“, sondern eher bewusste innere Haltung. Der dahinter stehende freiheitliche Geist des Begriffes wird bereits bei der Frage der Umsetzung deutlich, denn es gibt keine Vorgaben für eine Umsetzung von Yutori.

Es gibt nur die bewusste Entscheidung, einmal keinem Ziel nachzuhetzen, sondern die Welt in sich und um sich herum zu genießen. Yutori charakterisiert eine besondere Art und Weise, ein gesundes, erfülltes Leben im Gleichgewicht zu führen.

Wir reden hier nicht über Hedonismus. Die Absicht ist nicht, jede Form von Beanspruchung zu vermeiden und seinen Lebenssinn und -zweck auf Genuss und Wohlgefühl zu beschränken. Wie so häufig in der japanischen Tradition geht es auch bei Yutori um eine Harmonie, die durch den Ausgleich gegensätzlich wirkender Kräfte zum Ausdruck gebracht wird.

Heilung im Raum der inneren Ruhe

Um gesund und glücklich zu sein, brauchen wir ausreichend „Me-Zeit“, in der wir einfach mal die Beine baumeln lassen können. Doch die Bedeutung von Yutori geht über die Idee von Entschleunigung und Nichttun hinaus.

Die dahinter stehende Geisteshaltung bezieht sich auf Zeiten des inneren Friedens, in denen wir weder unter äußerem Druck stehen, noch innerem Druck ausgesetzt sind. Eine Art Quality-time, die uns erlaubt, das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu umarmen.

… und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.

(Pipi Langstrumpf)

In unserem leistungsgeprägten Land glauben viele, Zeiten von Nichttun seien verwerflich. Die folgende Schilderung, die ich mal irgendwo las, illustriert das sehr treffend:

„Meine Schwiegermutter erzählt gern, dass sie als Kind nicht Däumchendrehen durfte: Lieber hätte ihre Mutter ihr einen Knopf von der Bluse abgerissen und ihn dann von ihr wieder annähen lassen. Nichtstun war unvorstellbar.“

Aber aus der Hirn- und Stressforschung wissen wir heute, dass unser Gehirn Zeiten der Ruhe braucht, um Eindrücke und Gelerntes verarbeiten zu können. Haben wir diese Zeiten nicht, werden wir psychisch krank. Zudem kommen wir oft gerade beim scheinbaren Nichtstun auf die besten Ideen. Oder uns offenbart sich spontan die Lösung eines Problems, auf dem wir schon lange erfolglos herumgedacht haben.

Achtsamkeit und Yutori: Schwestern im Geiste

Es liest sich so simpel: Praktiziere doch einfach Yutori! Doch so einfach ist es nicht, denn wie oft denkt unser zerfasertes Hirn im Laufe eines vollgestopften Tages an Entschleunigung und den Genuss des gegenwärtigen Moments? Meistens gar nicht. Bestenfalls flackert die Erinnerung daran kurz auf … um von der nächsten Anforderung des Alltags sofort wieder erstickt zu werden.

Und hier kommt Achtsamkeit ins Spiel.

Für mich ist Yutori ist eine Art Kunstfertigkeit eines guten Lebens. Wie jede andere Kunstform kann sie kultiviert werden. Wir können die Praxis der Achtsamkeit nutzen, um unser Gehirn sanft an diesen Gedanken zu gewöhnen und Routinen zu trainieren, die Raum für uns selbst schaffen, der frei ist von Stress und übermäßiger Geschäftigkeit.

Yutori leben

Um dich zu inspirieren, möchte ich dich an meinem ganz persönlichen Yutori-Weg teilhaben lassen.

Am Anfang standen Bewusstheit und Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Ähnlich wie das Programm der Anonymen Alkoholiker mit dem Eingeständnis beginnt, abhängig zu sein, musste auch ich mir zunächst eingestehen, dass ich ein Problem hatte. Als junge alleinerziehende Mutter war ich damals nicht mehr, als ein automatisch funktionierender Bioroboter auf dem direkten Weg, mir meine Gesundheit und meine Lebensfreude zu zerstören.

Das Unbehagen meiner Lebenssituation war wie ein stressendes Hintergrundgeräusch schon lange Teil meines Grundempfindens. Durch die Achtsamkeitspraxis hatte ich gelernt, innezuhalten. Also hielt ich im Taumel meines Alltags an und erlaubte mir, meine Situation unbeschönigt zu fühlen. Diese Betrachtung mündete in der nüchternen Erkenntnis: „So geht es nicht weiter!“

Wie will ich leben?

Als nächstes machte ich mir erstmalig in meinem Leben klar, wie ich überhaupt leben wollte und was mir wirklich wichtig ist. Diese Erkenntnisse waren enorm wichtig, und sie nähren bis heute meine Motivation, mich auf achtsames Yutori auszurichten.

Ich wollte mich selbst und das Leben tiefer fühlen können und mir wurde klar: das braucht Zeit und Raum! In mir pulsierte das Bedürfnis, die Fülle des Lebens spüren und umarmen zu können – mehr Geräumigkeit und Weite in die Enge meines vollgestopften Lebens zu bringen. Genauso, wie der Poet Max Feigenwinter es beschreibt. Ich habe seine Zeilen für mich in die erste Person übersetzt:

Anhalten
Dann und wann
das Tempo verlangsamen,
anhalten,
in Ruhe wahrnehmen,
was um mich ist, was mich schützt,
bedroht, erfreut,
fordert, fördert,
mich neu einstellen und ausrichten.
Dann und wann
das Tempo verlangsamen,
anhalten,
mich hinsetzen und setzen lassen,
was sich in mir bewegt.
Meine Strukturen wahrnehmen,
sehen, was und wie ich bin.
Dann und wann
das Tempo verlangsamen,
anhalten,
aus meiner Tiefe Bilder aufsteigen lassen,
dankbar sein und sehen,
was sie mir zeigen wollen,
wohin sie mich weisen.

Hat das immer geklappt bzw. klappt das immer? Natürlich nicht. Aber darum geht es auch nicht. Wichtig ist mir, eine klare Grundhaltung in der Frage meiner Lebensgestaltung zu haben, auf die ich mich, wie auf einen Leuchtturm, immer wieder ausrichten kann.

Meine Yutori-Routinen

Für mich bewährte sich am besten, Yutori durch meine Morgenroutine im Alltag zu verankern. Ich wache gegen 5 Uhr auf, genieße nach dem Bad meinen Matcha-Latte und setze mich dann zur Achtsamkeitsmeditation nieder.

Bevor ich mit der Arbeit beginne, lasse ich mir rund 60 Minuten Zeit für etwas, auf das ich Lust habe. Manchmal lese ich einen inspirierenden Text, manchmal schreibe ich ein paar Tagebuchzeilen oder ein Gedicht, manchmal schaue ich nach dem Gemüse und den Blumen auf der Veranda oder mache einen Spaziergang durch den Garten.

Ein Geist wie ein stiller heiliger Raum

Zu diesen Zeiten ist mein Geist ruhig, wach und klar. Ich mache ihm keine Vorgaben, sondern schaue interessiert, womit er sich beschäftigt. In diesem freien geistigen Raum ist oft nur wohltuende Ruhe. Aber bisweilen bekomme ich auch „Antworten auf nie gestellte Fragen“. Ich habe kreative Inspirationen oder lose herumflatternde Enden finden plötzlich zueinander.

Von Zeit zu Zeit ergibt sich sogar ein Austausch mit „dem Höchsten„. Das alles entsteht in einem „Sacred Space“, einem heiligen Raum … ohne Streben, ohne Tun und frei von Druck.

Freier geistiger Raum: Das Konzept von Yutori

Yutori – Ruhe, Entschleunigung und Reduktion

Yutori ist für mich eine innere Ausrichtung auf Entschleunigung und Weite und auf die Qualität des gegenwärtigen Moments. Auch hier finden wir die deutliche Parallele zur Achtsamkeitspraxis.

Das Yutori-Bewusstsein bewahrt mich davor, mich wie ein Lemming von einer Aufgabe in die nächste zu stürzen. Wann immer ich merke, dass mich Stress überkommt, mache ich eine Pause und tue etwas, das mich aus der Enge befreit. Das kann ein Spaziergang sein, ein Telefonat mit einer Freundin oder eine Stunde Gartenarbeit.

Den Yutori-Geist kultivieren

Anschließend bin ich neu ausgerichtet und habe frische Kraft, mich den Herausforderungen zu stellen, die auf mich warten. „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“, ist ein Sprichwort, das, wie Yutori, aus Japan stammt. Mich zu entschleunigen und dem, was ist, Raum zu geben, hilft mir, emotional stabil zu bleiben und auch angesichts von Schwierigkeiten ein hohes Maß an Lebensfreude zu bewahren.

In der Psychologie spricht man von Disidentifikation, wenn es darum geht, Abstand zwischen ein Geschehen und das eigene innere Erleben zu bringen. Yutori unterstützt uns dabei, immer wieder den Raum in uns zu schaffen, den es braucht, um von Stress und Emotionen nicht überwältigt zu werden.

Mit Achtsamkeit dein Yutori-Mindset entwickeln

Alles beginnt mit Bewusstsein. Bereits deine feste Absicht, dein Leben verändern und auf Yutori ausrichten zu wollen, lenkt deine Schritte in die richtige Richtung.

Ich möchte dir gleich zu Beginn drei richtungsweisende Fragen stellen, die auch mir damals geholfen haben:

  • Wie viel Raum nimmst du dir in deinem Leben für dich selbst?
  • Was ist dir wirklich wichtig?
  • Wie möchtest du leben?

Ein Teil dieses besonderen inneren Weges besteht eben genau darin, dass du selbst herausfindest, wie du Yutori am besten lebst. Am Anfang sind es vielleicht nur Yutori-Momente … aber es ist die Vielzahl einzelner Tropfen, die über einen längeren Zeitraum die Kraft hat, einen ganzen Canyon auswaschen.

Tipps für Yutori am Arbeitsplatz

Zu entschleunigen und zu reduzieren hat nichts mit Faulheit zu tun. Mit einem entrümpelten Yutori-Geist bist du fokussiert und kreativ und schaffst in vier Stunden möglicherweise das, wofür andere sechs Stunden oder länger brauchen.

Aber Achtung: Den Zeitgewinn mit weiterer Arbeit auszufüllen, würde dem Yutori-Geist zuwiderlaufen und auf Dauer direkt in den Burnout führen.

Das Geheimnis des Yutori-Konzeptes ist, mehr Raum zu schaffen, den wir nicht füllen.

6 Tipps für mehr Yutori-Geist im Job

  1. Lerne Achtsamkeitsmeditation, um den wilden „Affengeist“ zu zähmen.
  2. Halte deinen Arbeitsplatz reduziert und aufgeräumt; Ordnung beruhigt den Geist.
  3. Gib der Kommunikation mit anderen mehr Qualität, indem du dir Zeit für Gespräche nimmst und wirklich zuhörst. Mach immer mal wieder Pausen zwischendrin, um den Raum zu schaffen, das Gesagte zu durchdenken und zu durchfühlen.
  4. Setze Termine mit Yutori-Geist: Plane mehr Zeit ein, als du voraussichtlich benötigst.
  5. Mach Pausen, wenn es eng und stressig wird. Eine fokussierte Meditation (Atemraum) oder ein kurzer Spaziergang beruhigt aufgewühlte Emotionen und klärt den Geist.
  6. Umarme deine Unvollkommenheit. Sei dir bewusst, dass Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten ein natürliches Merkmal der menschlichen Natur sind.

Wenn du all das berücksichtigst, kann Yutori eine wichtige Ressource sein, um deinem Leben mehr Leben zu geben.

© Doris Kirch, 2024