Wird Cocooning, das gemütliche Einigeln in den eigenen vier Wänden, zu einem neuen Trend der Weltflucht? Immer mehr Online-Services sorgen dafür, bald überhaupt keinen Schritt mehr vor die Tür setzen zu müssen. Werden wir jetzt zu weltfremden Einzelgängern? Schwinden mit diesem Rückzug aus der Welt nicht auch unsere sozialen Kompetenzen? Erfahre, wie Achtsamkeit dir hilft, eine gesunde Ausgewogenheit zwischen Außen und Innen zu finden.
Was ist überhaupt „Cocooning“
Cocooning – dieser Begriff lief mir erstmalig im „Popcorn-Report“ über den Weg. In diesem Buch, das ich in den 1990 Jahren las, beschrieb die amerikanische Marktforscherin Faith Popcorn kulturelle und gesellschaftliche Trends, um künftiges Verbraucherverhalten vorherzusagen. (Aufgrund seiner Popularität ist der Begriff Cocooning mittlerweile sogar im Wörterbuch zu finden).
Der Trend, den Popcorn für Amerika beschrieb, hatte eine gewisse Allgemeingültigkeit. Und er hatte ein Vorspiel. Blicken wir zurück auf die späten 1960er, die „Flower-Power“-Ära, dann können wir sehen, dass zu dieser Zeit auch in Deutschland der Mensch noch den Menschen suchte – in 3D.
Man war draußen, war unterwegs und feierte die Nähe anderer ganze Nächte hindurch, was das Zeug hielt. Doch dann kam das Internet – und das veränderte alles.
Das Internet als Booster für häuslichen Rückzug
Durch den Einsatz von Computern und anderen Technologien steigerten sich 24/7-Erreichbarkeit, Arbeitsüberlastung und Reizüberflutung. Parallel dazu sorgten der Boom des Internet und der sozialen Medien für eine schier unüberschaubare Schwemme an Freizeit- und Eventangeboten.
Das war neu und interessant. Und so hasteten viele von einer Veranstaltung zur anderen, immer mit der Angst im Nacken, irgendetwas „Wichtiges“ zu verpassen. Aus dieser Hetze nach stetig neuen Reizen, Events und Abenteuern entstand sogar ein Begriff: FOMO (Fear of Missing Out), die Angst, etwas zu verpassen.
Der Stress von Arbeit und Freizeit und die Zunahme von Komplexität und Tempo des Alltags ließen viele abends nur noch überreizt, überfordert und tiefenerschöpft in die Sofakissen sinken.
Laotse sagte einmal:
„Wenn du etwas ins Gegenteil verkehren willst, dann treibe es auf die Spitze“.
So setzte irgendwann tatsächlich ein gegensätzlicher Trend ein: Übersättigt und erschöpft von „der Welt da draußen“, entwickelte sich Cocooning – und es waren die neuen technologischen Möglichkeiten, die den Boden dafür bereiteten.
Das Internet unterstützte den Rückzug an den heimischen Herd: Das Kabelfernsehen ersetzte die Kinoabende, der Pizza-Service die Restaurantbesuche, und weder zum Einkaufen noch für eine Massage brauchte man das Haus zu verlassen. Um jemanden zu daten übrigens auch nicht: Selbst für die Partnersuche schossen Online-Angebote wie Pilze aus dem Boden.
My home is my castle
Cocooning ist aus dem Bedürfnis nach einer sicheren, überschaubaren Welt entstanden. Was sicher und überschaubar sein soll, muss zwangsweise klein sein, um beherrschbar zu sein. Was eignet sich da besser als der Rückzug in die eigenen vier Wände? „My Home is my Castle“.
Einen bedeutenden Einfluss auf Cocooning hatte sicherlich die skandinavische Lebensart Hygge. Unter Hygge wird in skandinavischen Ländern allerdings keine Weltflucht in die Isolation verstanden.
Hygge: Gemütlichkeit mit anderen
Im Gegenteil. Durch die häusliche hyggelige Atmosphäre soll eine Art Lagerfeuer-Romantik mit Wir-Gefühl entstehen. Man trifft sich mit anderen, um gemeinsam zu kochen, zu spielen, zu meditieren, einen Film anzuschauen oder einfach nur zusammenzusein.
Wie im Schutz einer Großfamilie ermöglichen solche Zusammenkünfte ein paar Stunden Entspannung und Wohlbefinden im Kreis von lieben Menschen, von denen man gesehen, gehört und gefühlt werden kann. In echt eben.
Rückzug aber nicht allein
Social Cocooning sozusagen – auch bekannt unter dem Begriff Homing (engl. Heim) – ist ein Lebensstil bei dem soziale Kontakte gepflegt – aber in den häuslichen Lebensbereich verlagert werden. Motto: Einladen ist das neue Ausgehen.
Was mich anbelangt: Ich liebe es zum Beispiel, mit Menschen zusammenzukommen und gemeinsam zu kochen. Hinterher liest jeder, der mag, etwas aus einem Buch vor, das ihn gerade beschäftigt und man tauscht Gedanken über Gott und die Welt aus.
Slow Reading und Slow Being als Ergänzung zu Slow Food. Die soziale Komponente bewahrt uns davor, zum weltfremden Misanthropen zu werden.
Selbstbestimmt und glücklich leben aus der Kraft der Achtsamkeit
Finde deine innere Wahrheit und lebe sie authentisch und frei.
Die Gefahr von Einigeln als Lebenshaltung
Cocooning beschreibt ganz allgemein einen Rückzug in den Schutz der eigenen vier Wände, um sich vor einer unberechenbaren und potenziell „feindlichen“ Außenwelt zu schützen. Grundsätzlich eine gute Sache.
Problematisch wird das Ganze jedoch, wenn es zu einer Lebenshaltung wird. Denn ein extremes Einigeln in die heimische Wohnzimmer-Idylle birgt die Gefahr einer gewissen inneren Abstumpfung, bei der das Interesse an anderen Menschen, an „der Welt da draußen“, aber auch an persönlicher Weiterentwicklung und Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft schwindet.
Dieser Trend ist mir bereits in den zwei Jahren des Corona-Geschehens aufgefallen – und nach meinem Empfinden hat er sich mit der Kriegssituation in Europa noch einmal verschärft.
Mit Achtsamkeit Buddhas Weg der Mitte finden
Sich aus Schutz vor einer unwägbaren, rohen Welt zurückziehen zu wollen, ist ein ganz natürlicher Reflex. Und das müssen wir von Zeit zu Zeit auch tun, um psychisch gesund zu bleiben. Doch wie schaffen wir es, nicht in einem selbstkreierten Stillleben aus Häkeldeckchen, Kerzen und Buddha-Figürchen zu ersticken?
Hier kann die Achtsamkeitspraxis uns den Weg weisen. Bereits vor zweieinhalb Tausend Jahren propagierte der Buddha den Weg der Mitte. Ein achtsames Gewahrsein auf das, was wir denken, fühlen und tun zu haben, kann uns helfen, auch beim Cocooning einen gesunden Weg der Mitte zu finden.
Social Cocooning – Ohne die anderen geht es nicht
Ob es uns gefällt oder nicht, und ob uns andere auf die Nerven gehen oder nicht: Der Mensch braucht den Menschen. Manchmal haben wir das Gefühl, anderen am liebsten aus dem Weg gehen zu wollen. Aber ohne andere geht es auch nicht.
Auch unter freiwilliger Isolation setzt irgendwann eine soziale Verwahrlosung ein. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir heute, dass Selbstzurückgezogenheit auf Dauer, nicht nur die seelische, sondern auch die körperliche Gesundheit negativ beeinträchtigt.
3 Ideen für ein gelingendes Cocooning
-
Auf unser gemeinsames Menschsein besinnen
Um der digitalen Vereinsamung entgegenzuwirken, wäre meine erste Idee, sich an unser gemeinsames Menschsein zu erinnern und sich grundsätzlich auf Social Cocooning zu besinnen.
Social Cocooning muss übrigens nicht unbedingt im eigenen Wohnzimmer stattfinden; man kann sich auch in einem Park, in einem kleinen gemütlichen Café oder an einem anderen stillen Ort treffen.
Auf jeden Fall sollte eine „Tyrannei der Gemütlichkeit“ vermieden werden, die nur auf Harmonie und Einklang abzielt. Nichts spricht gegen eine handfeste leidenschaftliche Diskussion über ein bewegendes Thema.
Finden sich Gleichgesinnte zusammen, kann dabei Achtsamkeit praktiziert werden. Voraussetzung dafür ist allerdings ein aufrichtiges Interesse aller Teilnehmenden an einem tiefen Austausch und achtsamer Kommunikation.
-
Rückzug als bewusstes Achtsamkeitstraining
Das Wunderbare an der Achtsamkeitspraxis ist, dass sie nicht auf dem Meditationskissen beginnt und endet. Im Gegenteil: Sie findet mitten im Leben statt. Jede Lebenssituation kann auf diese Weise zur Achtsamkeitsübung werden – auch das Bedürfnis des Rückzugs in die eigenen vier Wände.
Dieses Rückzugsbedürfnis hat etwas mit unseren persönlichen Grenzen zu tun, hinter die wir uns wie ein Einsiedlerkrebs zurückziehen, sobald eine Gefahr droht.
Dein Achtsamkeitsimpuls
News und Inspiration für ein achtsames Leben
Deine Grenzen sind flexibler als du denkst
Die Absolventinnen unserer Achtsamkeitstrainer-Ausbildung lernen zum Beispiel im Zuge ihrer achtsamen Selbstbeobachtung, ihre Grenzen besser zu erkennen und zu wahren. Wenn sie ihre Grenzen erforschen, stellen sie fest, dass diese nicht so statisch sind, wie sie geglaubt haben.
Ein Ziel von Achtsamkeitstraining ist, diese Grenzen auszutesten und flexibler im Umgang mit ihnen zu werden. Diese Fähigkeit lässt sich beim Cocooning ebenfalls trainieren.
In der folgenden Grafik siehst du verschiedene innerpsychische Schichten: Die Komfortzone, die Lernzone und die Schmerz- oder Panikzone.
Wir würden Schaden nehmen, wenn wir anstrebten, uns nur in unserer Komfortzone aufzuhalten. Darauf ist das Leben nicht angelegt – was mich an ein Zitat des Schriftstellers John Augustus Shedd erinnert:
„Ein Schiff im Hafen ist sicher, doch dafür werden Schiffe nicht gebaut“.
Die Komfortzone ist zwar die „Home-Base“, aber kein geheimes Refugium für Weltflucht. Von Zeit zu Zeit ist es wichtig, die Nase auch mal in den Wind zu stecken und sich in die Lernzone vorzuwagen.
Für das Cocooning-Bedürfnis könnte das zum Beispiel bedeuten, ein achtsames Gewahrsein dafür zu entwickeln:
- In welcher Zone befinde ich mich gerade?
- Was brauche ich, um mich außerhalb meiner Komfortzone wohlzufühlen?
- Wo finde ich ein Außen in „dosierten Maßen“?
- Welche Menschen kann ich gut um mich haben?
- Wo sind nicht so wahnsinnig viele Menschen unterwegs?
- Wo ist die Lautstärke gemäßigt?
Im Experimentieren mit den Zonen mehr Resilienz entwickeln
Wenn du in der Lern-Zone unterwegs bist, wirst du unvermeidbar auch mal die Schmerz-Zone berühren. Das ist normal. Und es ist wichtig, denn nur dadurch kannst du mehr innere Widerstandskraft (Resilienz) aufbauen.
Spürst du den Schmerz des „Autsch“, dann kann es wichtig sein, dich wieder eine Zeitlang zurückzuziehen – nämlich genau so lange, bis du genug Kraft gesammelt hast … um dich erneut nach draußen zu wagen.
Achtsamkeit wird dir dabei helfen, einen bewussteren, kreativen Umgang mit Dingen, Menschen und Situationen zu finden, der dich gesund und lebensfroh erhält. Achte darauf, dass der Rückzug des Cocooning nicht zum Selbstzweck wird.
-
Die Freude am Minimalismus entdecken
Vorhin erwähnte ich FOMO (Fear Of Missing Out), die Angst, etwas zu verpassen. Zu jedem Trend gibt es bekanntlich eine Gegenbewegung. So auch hier. Aus FOMO wurde JOMO (Joy Of Missing Out) – die Freude am Verpassen. Weniger ist manchmal mehr.
Für mich mittlerweile ein himmlisches Vergnügen. Ich fühle mich in der tiefenentspannten Haltung des antiken Philosophen Sokrates – um im Bilde zu bleiben – zu Hause:
„Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf.“
Dieses Prickeln, wenn ich bemerke, wie das Begehren nach irgendetwas in mir aufsteigt und ich mich bewusst dazu entscheide, nicht darauf anzuspringen … ist ein machtvolles Gefühl, das mit nichts vergleichbar ist. :o)
Achtsamkeit: Den Wert der kleinen Dinge lieben
Hier ist die Achtsamkeitspraxis wieder einmal von besonderem Wert, denn sie lehrt uns, Freude im gegenwärtigen Moment zu haben – und damit auch Freude an kleinen Dingen zu entwickeln.
„Weise ist der Mensch, der nicht den Dingen nachtrauert, die er nicht besitzt, sondern sich der Dinge erfreut, die er hat.“
(Epiktet)
Die Welt lieben, wie sie ist
Ich hoffe, dieser Beitrag verhindert, dass aus deinem zeitweisen heilsamen Rückzug und deiner Reduktion von Außenreizen und Aktivitäten ein neuer Lebensstil wird.
Möge es dir gelingen, mit Hilfe von Achtsamkeit, einen gesunden Abstand vom Alltag zu entwickeln, um die Kraft zu finden, dich immer wieder dem Leben im Außen zuzuwenden.
„Ich … bedurfte der Wollust, des Strebens nach Gütern, der Eitelkeit und bedurfte der schmählichsten Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen, um die Welt lieben zu lernen, um sie nicht mehr mit irgendeiner von mir gewünschten, von mir eingebildeten Welt zu vergleichen, einer von mir ausgedachten Art der Vollkommenheit, sondern sie zu lassen, wie sie ist, und sie zu lieben und ihr gerne anzugehören.“
(Hermann Hesse, Siddhartha)
P.S. Hinterlass mir gerne einen Kommentar, wenn du weitere Ideen für ein heilsames Cocooning hast.
Hinterlasse mir gerne deine Gedanken zu diesem Beitrag
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar schreiben zu können.