R.A.I.N. ist ein Prozess zum heilsamen Umgehen mit schwierigen Gedanken und Gefühlen. Mit Achtsamkeit und Mitgefühl kultivierst du die Fähigkeit, Schmerz in Erkenntnis und Stärke umzuwandeln.

Wir bekommen im Leben nicht immer das, was wir wollen und brauchen. Dafür bekommen wir manchmal, was wir nicht wollen und nicht brauchen. Wenn so etwas passiert, erleiden wir einen Realitätsschock. Ein Realitätsschock ist kurz gesagt eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Solche Situationen sind gewöhnlich von schwierigen Gedanken begleitet. Schwierig deshalb, weil sie verzerrt sind und das hängt mit unserem inneren Stress-System zusammen. Wenn wir unsere Bedürfnisse oder Werte bedroht sehen, aktiviert das Gehirn automatisch das körperliche Stress-System. Es bereitet uns darauf vor, gegen das Ungeliebte zu kämpfen oder vor dem Ungeliebten zu flüchten. Der Überlebensmodus hat die Regie übernommen.

In schwierigen Situationen können Gedanken zwanghaft werden

Zur Vorbereitung des Körpers auf Kampf oder Flucht gehört auch, die Zugänge zu den komplexen, intelligenten Bereichen des Gehirns zu verriegeln. Der Organismus schaltet um auf Autopilot und wir reagieren nur noch unbewusst-instinktgeteuert. Klares, situationsangemessenes Denken im Einklang mit unseren Werten, Bedürfnissen und Zielen findet praktisch nicht mehr statt.

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R.A.I.N. als Hilfe bei schwierigen Gedanken und Gefühlen

Mit den Gefühlen sieht es in kritischen Situationen auch nicht besser aus. Je nachdem, wie hart wir den Realitätsschock empfunden haben, können daraus entstehende Emotionen wie Irritation, Angst, Wut oder Scham geradezu überwältigend sein. In solchen Momenten haben wir den Eindruck, das Gefühl zu sein, statt die Person, die es erlebt.

Statt zu bemerken, dass gerade ein Gewitter tobt, erleben wir uns selbst als das Gewitter. Es findet eine völlige Identifizierung mit den starken Gefühlen statt.

Sind wir vollständig im inneren Drama verstrickt, können wir nicht mehr klar denken und fühlen. Und demzufolge können wir auch nicht mehr selbstbestimmt, situationsangemessen und im Einklang mit unseren Werten, Bedürfnissen und Zielen handeln.

Wer kennt das nicht, in Rage etwas gesagt oder getan zu haben, das tiefe Reue erzeugt, sobald sich die überbordenden Gefühle beruhigt haben und das Denken wieder klar ist?

In solchen psychischen Zuständen, brauchen wir etwas, das uns hilft, „bei uns zu bleiben“ und einen kühlen Kopf zu bewahren.

R.A.I.N.: Vier Schritte, um die achtsame Präsenz aufrechtzuerhalten

Für einen heilsamen Umgang mit problematischen Situationen finden sich in der buddhistischen Psychologie viele hilfreiche Ausführungen. Sie erklären, was wir tun können, um in Situationen von Verwirrung, Schmerz oder Stress zentriert und achtsam mit der inneren Erfahrung verbunden zu bleiben.

Einige amerikanische buddhistische Lehrer, wie zum Beispiel die Psychologin Tara Brach, nutzen dafür eine Methode in vier Schritten, die unter dem Begriff R.A.I.N. bekannt geworden ist. R.A.I.N. ist ein bewährter systematischer Prozess, um die Achtsamkeit aufrechtzuerhalten bzw. in die vorurteilsfreie achtsame Präsenz zurückzufinden. Durch diesen sanften Weg können wir eine heilsamere Beziehung zu unserem Innenleben entwickeln.

R:  Recognizing

Ich nehme wahr, was gerade in mir geschieht.

Der erste Schritt der R.A.I.N.-Methode besteht darin, zu stoppen, innezuhalten und wahrzunehmen, was gerade in uns vorgeht: „Welche Emotionen, Gefühle sind gerade in mir lebendig? Welche Empfindungen spüre ich parallel dazu in meinem Körper? Welche Impulse kann ich gerade wahrnehmen? (Wegzulaufen? Dem anderen an die Gurgel zu gehen?) Welche Gedanken gehen mir durch den Kopf?

Jeder Mensch ist irgendwie verwundet und jeden stellt das Leben vor eigene Herausforderungen. Sobald wir das erkennen, öffnet sich unser Herz dem warmen Strom bedingungsloser Liebe und grenzenlosen Mitgefühls für uns selbst und für andere.

Doris Kirch

A:  Allowing

Ich erkenne die Situation an, wie sie gerade ist

Dieser Aspekt hängt eng mit dem vorherigen zusammen. Er gibt unserer inneren Untersuchung eine heilsame Ausrichtung und Qualität. Unabhängig davon ob wir gut oder schlecht finden, was wir in uns wahrnehmen, geben wir uns die Erlaubnis, anzuerkennen, dass es ist, wie es ist. Das bedeutet nicht, mit der Situation einverstanden zu sein oder das Verhalten eines anderen gutzuheißen.

Die Annahme im Prozess von R.A.I.N bezieht sich lediglich auf das Annehmen der eigenen Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen im gegenwärtigen Moment. Wir nutzen dazu die Kraft der Achtsamkeit, denn durch sie können wir die Erfahrung machen, dass wir auch schwierige Gedanken und Gefühle zulassen und anschauen können, ohne dass sie uns überrollen.

Schmerz ist noch kein Leiden

Gegen etwas anzukämpfen, etwas nicht wahrhaben wollen oder in Scham zu versinken, bedeutet, dem Status quo Widerstand entgegenzusetzen. Das wäre, als würden wir Öl ins Feuer gießen – es facht das Geschehen zusätzlich an. Auf diese Tatsache weist auch die „buddhistische Leidensformel“ hin: Schmerz + Widerstand = Leiden. Der Schmerz als solches ist nur Schmerz.

Die Frage ist, wie wir uns auf ihn beziehen. Setzen wir ihm Widerstand entgegen, vergrößern wir ihn zum Leiden, erkennen wir an, dass er da ist, bleibt er, was er ist: Schmerz.

Weisheit erkennt, welche Gefühle präsent sind, ohne sich in ihnen zu verlieren.“

Jack Kornfield

Sein lassen

Es geht also bei dieser Untersuchung darum, den Status quo in einer vorurteilsfreien, freundlichen inneren Haltung festzustellen. Dadurch, dass wir zum neutralen Beobachter des Geschehens werden, treten wir quasi einen Schritt aus dem Geschehen heraus. Das gibt unserer Aufmerksamkeit eine heilsame Qualität, die bereits zu einer gewissen Erleichterung führt und ein tieferes Versinken in den starken Emotionen verhindert.

In solchen Momenten können wir uns sanft innerlich fragen: „Kann ich das für diesen Moment so sein lassen, wie es ist?“ Manchmal treten auch Widerstände gegen das Annehmen auf. Sollte das geschehen, akzeptieren wir auch das.

I:  Investigating (with kindness)

Ich erforsche meine inneren Erfahrungen (mit Freundlichkeit).

Für viele Lebenssituationen reichen bereits die ersten beiden Schritte des RAIN-Prozesses. Manchmal werden wir jedoch mit komplexeren und vor allem essenzielleren Sachverhalten konfrontiert: Der Partner verlässt uns nach vielen Ehejahren, ein geliebter nahestehender Mensch ist gestorben oder der Firma droht der Konkurs. Solche Lebenslagen dauern gewöhnlich länger an.

Die damit verbundenen quälenden Gedanken und Gefühle können enorm intensiv sein, und sie werden durch verschiedene Auslöser immer wieder getriggert.

Der R.A.I.N.-Prozess: Mit gezielten Fragen das Unbewusste erforschen

Hier erweist es sich als hilfreich, etwas tiefer in das Geschehen einzusteigen. Es braucht dazu ein gewisses Maß natürlichem Interesse und den Mut, sich dem Schmerzhaften zuzuwenden, was sicherlich nicht immer einfach ist. „Ist das wirklich wahr?“, „Was will dieses Gefühl mir sagen?“, „Was wäre ich ohne diese Gedanken?“ oder „Wo und wie merke ich das gerade im Körper?“ sind nur einige mögliche Fragestellungen.

In schwierigen Lebenslagen entwickeln Gedanken gerne ein unkontrolliertes Eigenleben. Dann besteht die Gefahr, sich in mentalen Verurteilungen und Intellektualisierungen zu verlieren, die das Geschehen weiter verkomplizieren. Um zu erkenntnisreichen Antworten durchzudringen, ist es wichtig, direkt mit dem inneren Erleben in Kontakt zu kommen.

Identifizierungen mit belastenden Gedanken und Gefühlen können nur im Kontakt mit dem eigenen Verletztsein aufgelöst werden – und das ist ein zutiefst körperlicher Prozess (und gleichzeitig ein essenzielles Element der buddhistischen Einsichtspraxis (Vipassana).

Mitgefühl als Qualität des RAIN-Prozesses

Der Aspekt der „Investigation“ (Erforschung) enthält den Zusatz „with kindness“ (mit Freundlichkeit). Wir verstehen das, wenn wir uns vorstellen, ein Freund hätte einen Unfall gehabt. Sicherlich ist es wichtig für ihn, sich mit jemandem über die Umstände auszustauschen.

Aber was er vor allem brauchen wird, sind die Herzensqualitäten Mitgefühl, Fürsorge und Freundlichkeit. Mitgefühl ist Bestandteil von achtsamer Präsenz, deshalb sollte es auch im RAIN-Prozess der eigenen Erforschung nicht fehlen.

N:  Natural awareness

Ich verweile im Zustand der Freiheit des inneren Friedens.

Im RAIN-Prozess haben wir mit den Faktoren R (Recognition), A (Allowing) und I (Investigation) bewusst und willentlichen eine klare, offene und freundliche Präsenz erzeugt. Der letzte Aspekt N (Non-Identification) kann nicht willentlich erzeugt werden.

Es handelt sich dabei um eine Qualität, die durch die ersten drei Aspekte hervorgebracht wird. Sie drückt sich durch ein Gefühl innerer Freiheit aus, das als natürliches Gewahrsein oder natürliche Präsenz bezeichnet wird

Nicht-Identifikation bedeutet, frei von Geschichten darüber zu sein, wie wir selbst, andere Menschen und die Umstände sind oder zu sein haben. Jenseits des Gefangenseins in einem engen, angstbesetzten Ich können wir uns auch schwierigen Umständen zuwenden. Im Zustand der Nicht-Identifikation öffnet sich uns eine große Palette kreativer Handlungsmöglichkeiten. Wir sind frei, als der Mensch zu handeln, der wir sein möchten.

R.A.I.N. Achtsames Erforschen

Mit R.A.I.N. vertraut werden

Ich würde dir gerne versprechen, dass du den zuvor beschriebenen Zustand der inneren Freiheit durch das Lesen dieses Beitrags erreichen kannst. Aber das wäre wenig realistisch. Vielmehr zeigt die Realität, dass es etliche Situationen emotionalen Leidens als Übungsfeld braucht, um eine natürliche Stärke darin aufzubauen.

Wenn du den Prozess von R.A.I.N. einüben möchtest, beginnst du am besten mit problematischen Gedanken und Gefühlen eines mittleren Schwierigkeitsgrades. Jede neue Übungssituation wird deine Fähigkeiten stärken, mit schwierigen Gedanken und Gefühlen auf eine achtsame und heilsame Weise umzugehen.

Möge R.A.I.N. sich als segensreich für dich erweisen.

 

© Doris Kirch, 2019