Achtsames Schreiben ist eine einfache aber tiefgreifende Achtsamkeitspraxis. Das geschriebene Wort bringt mehr Klarheit und hat eine heilsamere Wirkung als das gedachte Wort. Erschließe dir das Potenzial deiner inneren Weisheit und vertiefe deine Achtsamkeit, indem du dein inneres Erleben auf achtsame Weise zum Ausdruck bringst.
Gebt eurem Schmerz Worte: ein stummer Schmerz presst seine Klagen in das Herz zurück und macht es brechen.
Shakespeare, Macbeth
Wissenschaftlich bestätigte Wirkungen des Schreibens
Im Grunde ist achtsames Schreiben eine einfache Sache. Man braucht dafür einen ruhigen Ort, ein Blatt Papier und einen Stift. Wenig Voraussetzungen für bemerkenswerte Resultate, denn mittlerweile ist gut erforscht, wie heilsam sich Schreiben auf mentale Prozesse und auf das Gefühlsleben auswirkt.
Expressives Schreiben gilt als eine der wissenschaftlich am besten untersuchten psychotherapeutischen Selbsthilfetechniken. Expressiv bedeutet, seinem inneren Erleben mittels Papier und Stift einen Ausdruck zu geben. Die besondere Wirksamkeit des Schreibens soll in der emotionalen Hinwendung und der sprachlichen Verknüpfung von Fakten und Gefühlen begründet sein.
Worte lindern Leiden
Jeder, der schon einmal Tagebuch geschrieben hat, weiß: Schreiben erleichtert die innere Auseinandersetzung mit belastenden Erlebnissen und unterstützt deren Verarbeitung. Tatsächlich belegen zahlreiche Studien, dass emotionales Leiden durch Schreiben gelindert werden kann.
Selbstbestimmt und glücklich leben aus der Kraft der Achtsamkeit
Finde deine innere Wahrheit und lebe sie authentisch und frei.
Mein Kummer ist unausdrückbar, aber gleichwohl sagbar. Schon die Tatsache, dass mir die Sprache das Wort unerträglich zur Verfügung stellt, bewirkt unmittelbar ein gewisses Ertragen.
(Aus dem Tagebuch des Philosophen Roland Barthes zum Tod seiner Mutter).
Der wohl bekannteste Wissenschaftler auf diesem Gebiet ist der amerikanische Psychologe Prof. James Pennebaker. Nach seinen Forschungsergebnissen erweist sich das schriftliche Externalisieren von Gedanken und Gefühlen bei Depressionen als besonders hilfreich. Indem es eine Aufarbeitung des Geschehens aus einer sicheren Distanz ermöglicht, reduziert es die Grübelneigung und die Häufigkeit niedergeschlagener Stimmungslagen.
Weitere positive Effekte die Pennebaker fand, sind eine erhöhte Aktivität des Immunsystems und eine damit einhergehende Stärkung der körperlichen Widerstandskraft, eine Reduktion von Stress und eine Stärkung von Optimismus und Kreativität – Resultate, die in zahlreichen Studien anderer Forscher inzwischen bestätigt wurden.
Die Methode des Expressiven Schreibens
Man kann Dinge auf verschiedene Arten angehen. Pennebaker entwickelte mit dem Expressiven Schreiben seine eigene spezielle formale Methode des therapeutischen schriftlichen Ausdrucks. Innerhalb eines festgelegten Zeitrahmens schreiben die Teilnehmer mehrmals über das gleiche Thema, wobei sie die Perspektiven wechseln.
Vereinfacht ausgedrückt wird angenommen, dass durch die wiederholte Konfrontation ein gewisser Gewöhnungseffekt eintritt, was Affekte reduziert. Durch diese Art des Schreibens, so die Annahme, werden fragmentale Gedanken, innere Bilder, Eindrücke und Gefühle zu einem Ganzen zusammengefügt. Gebündelt und mit Sinnhaftigkeit versehen, kreisen sie nicht mehr fortwährend im Geist und geben zuvor gebundene Ressourcen des Denkens und Fühlens frei.
Mehr über Pennebakers expressives Schreiben im Beitrag von Zeit online »»
Tagebuchschreiben aktiviert die geistige Funktion des inneren Dialogs. Studien haben gezeigt, dass das einfache Aufschreiben einer schwierigen Erfahrung die physiologische Reaktivität verringern und unser Wohlbefinden steigern kann, auch wenn wir nie jemandem zeigen, was wir geschrieben haben.
Vom Kognitiven zum Intuitiven
Ich fand es durchaus interessant, bei der Beschäftigung mit dem Thema achtsames Schreiben einen Abstecher in die Welt der Forschung zu machen. Was ich dort las, hat mich keineswegs überrascht, denn die beschriebenen Phänomene hatte ich längst schon bei mir selbst beobachtet. Nun sind meine subjektiven Erfahrungen wissenschaftlich gesichert. Auch schön.
Erstaunt hat mich indes, dass die Erkenntnisse und Resultate sich auf die Beschreibung kognitiv-emotionaler und körperlicher Funktionalitäten beschränkten. Meine eigenen Erfahrungen mit dem Schreiben als Prozess und seinen Auswirkungen gehen sehr viel tiefer.
Ich scheue mich nicht, hier von einer tieferen Dimension des Menschseins zu sprechen, die durch das intuitive Schreiben berührt werden kann. Die Achtsamkeit im Geiste ihrer buddhistischen Wurzeln spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Was ist Achtsames Schreiben?
Achtsam zu schreiben bedeutet, aus einer inneren Haltung der Achtsamkeit heraus zu schreiben. Diese Haltung ist vor allem durch die Eigenschaften Vorurteilsfreiheit und Freundlichkeit sich selbst gegenüber gekennzeichnet.
Wissenschaftliche Studien untermauern die besondere Bedeutung dieser Eigenschaften: Untersuchungen über die Verarbeitung emotional belastender Ereignisse in einem Gespräch mit einer andern Person zeigten heilsamere Wirkungen, wenn der Gesprächspartner auf eine nicht-wertende und mitfühlende Weise zuhörte.
Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig die Wichtigkeit; wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue.
Dein Achtsamkeitsimpuls
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Die inneren Gesprächspartner
Taucht man tief ins Schreiben ein, entwickelt sich so etwas wie ein stiller Dialog. Der äußere Zuhörer wird quasi durch einen inneren Zuhörer ersetzt. Dieser Gesprächspartner ist eine Instanz aus dem eigenen Inneren. Auf ihn treffen die gleichen Eigenschaften zu, wie auf eine Person aus Fleisch und Blut: Wir öffnen uns mehr und gelangen zu tieferen Erkenntnissen, wenn uns mit Wohlwollen und Freundlichkeit begegnet wird.
Interessant ist, dass wir mehrere Dialogpartner in uns haben und wir sollten aufmerksam dafür sein, wer jeweils gerade mit uns „spricht“. Oft sitzen uns der innere Kritiker, Zensor oder Richter gegenüber, die uns bereits im Alltag gerne unbemerkt Knüppel zwischen die Beine werfen. Natürlich sind ihre Kommentare wichtig, denn sie wirken sich unbewusst auf unser gesamtes Denken, Fühlen und Handeln aus.
Lausche den Antworten und fühle in sie hinein: aus welcher Ebene deines Seins tauchen sie auf? Wenn sie wertend, herabsetzend, kritisch oder nörgelnd sind, ist es wahrscheinlich, dass es sich um einen der „üblichen Verdächtigen“ handelt.
Experiment
Wenn du dich das nächste Mal zum achtsamen Schreiben hinsetzt, dann lege einen zweiten Zettel bereit, auf dem du die Aussagen des inneren Kritikers und Richters notierst. So würdigst du auch deren Beiträge und kannst dich bewusst mit ihnen beschäftigen. Es könnte zu überraschenden Erkenntnissen führen, wenn du die geballte Ladung dieser sonst unbewussten Kommentare schwarz auf weiß vor dir liegen hast. Die Erkenntnis, wie unerbittlich du oft gegenüber dir selbst bist, könnte der Impuls sein, dir künftig mitfühlender und freundlicher zu begegnen.
Achtsames Schreiben als Achtsamkeitspraxis
Bevor du beginnst: Halte einen Moment inne, sei still, spüre das Pulsieren deines Lebendigseins und den leichten Druck dessen, was darauf wartet, sich zum Ausdruck bringen zu dürfen.
Dann zentriere dich im Atem. Der Atem sollte in der Meditation – und somit auch beim achtsamen Schreiben – dein Verbündeter sein. Ihn kannst du immer hinzuholen, wenn du Kraft und innere Ausrichtung brauchst.
Achtsames Schreiben bedeutet: Schreibe einfach wann dir danach ist und wo dir danach ist. In der Fachliteratur findet man oft die Aufforderung, man solle Tagebuchschreiben zu einem Ritual machen: Besonderer Moment, besondere Umgebung, besonderer Ort, besonderer Stift, besonderes Papier, Kerze. Ich persönlich verzichte auf all diesen Brimborium. Das macht es einfacher – und achtsam bedeutet auch einfach.
Lass alle Zielvorstellungen und Erwartungen los. Verbinde dich mit der achtsamen inneren Haltung des Anfängergeistes. Beim Schreiben weiß man am Anfang nie, was am Ende herauskommt. Übergib dich der Weisheit des Nichtwissens, einer weiteren hilfreichen Eigenschaft der Achtsamkeitspraxis.
Achtsam sein heißt präsent sein
Schreiben ist ein Freilegungsprozess. Innere Bilder, Gedanken und Gefühle, die danach drängen, ihren Ausdruck zu finden, brauchen in diesem Prozess einen offenen, leeren Raum. Sie brauchen Freiheit, Weite und Luft zum Atmen. Entfalte dich, lasse zu, dass „es“ dich schreibt. Erlaube dem inneren Raum, sich zu entleeren.
Halte die Feder hin und folge der Bewegung deines Inneren. Vergiss Grammatik, Orthografie und Interpunktion. Was du schreibst, ist nicht zum Lesen für andere bestimmt. Selbst wenn sich dir etwas des Geschriebenen später nicht mehr erschließt, ist das nicht von Bedeutung. Beim Achtsamen Schreiben geht es um das Hier und Jetzt, um den Prozess des Schreibens als solches im gegenwärtigen Moment.
Achtsam schreiben: Tun im Sein
Setz dich also hin und fang einfach mit dem an, was dir gerade in den Sinn kommt. Die ersten Sätze werden noch eine gewisse Leichtigkeit haben. Aber je mehr du dir selbst aus dem Weg gehst und je tiefer du ins reine Gewahrsein eintauchst, desto klarer und tiefgründiger wird, was du zu Papier bringst.
Ins reine Gewahrsein einzutauchen meint, dich in dein Innerstes zu versenken. In dieser Absichtslosigkeit bist du in Kontakt mit einer weiteren Qualität der Achtsamkeitspraxis, dem Nicht-Streben, dem Aufhören, die Dinge anders haben zu wollen, als sie im Moment gerade sind. Opfere dich auf dem Altar des Seins.
Nur so kannst du ins Wortlose jenseits von Sprache durchbrechen, dessen Erkenntnisse dann wieder in Worte gefasst werden wollen. Ohne Worte geht es nicht. Sprache und Körper sind miteinander verbunden, denn jede unserer Zellen birgt die Erfahrungen unseres Lebens und unseres Leibes.
Tipps zum achtsamen Schreiben
- Schreibe, wann immer dir danach ist.
- Verschwende keinen Gedanken an korrekte Rechtschreibung.
- Zu Beginn innehalten und nach innen lauschen.
- Den Atem als Anker und Zuflucht nutzen.
- Sei freundlich und wohlwollend zu dir.
- Von Moment zu Moment wahrnehmen: Welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen sind gerade präsent. Wie verändern sie sich mit jedem neuen Satz oder sogar mit jedem neuen Wort? Wie ist ihre Beziehung zueinander?
- Eine Pause machen, wenn es zu viel wird.
- Zwischendurch immer wieder einen weiten Blickwinkel einnnehmen.
- Einen zweiten Zettel für den inneren Kritiker, Zensor und Richter nutzen.
- Allem Angenehmen und Unangenehmen mit der gleichen freundlichen Aufmerksamkeit begegnen.
- Immer wieder die Haltungen der Achtsamkeit ins Bewusstsein bringen: Anfängergeist, Nicht-Urteilen, Akzeptanz, Nicht-Streben, Seinlassen, Geduld, Vertrauen, Selbstmitgefühl und Freundlichkeit. (Humor kann auch nicht schaden ;o)
- Gib der Weisheit Zeit, sich zu entfalten, indem du zwischendurch entschleunigst.
- Benutze das achtsame, intuitive Schreiben nicht als Tool für kognitive Problemlösungen oder für eine Suche nach bestimmten Erfahrungen. (Funktioniert nicht).
Der furchtlose Schreibende
Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr.
Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray
Wenn wir beim achtsamen Schreiben offen, transparent und durchlässig werden, erhalten wir manchmal Antworten auf nie gestellte Fragen. Und manchmal können diese Antworten schmerzhaft sein. Hier ist eine weitere Qualität der Achtsamkeitspraxis hilfreich: Akzeptanz. Akzeptieren meint nicht gut heißen. Es bedeutet, der Erfahrung des gegenwärtigen Moments keinen Widerstand entgegenzusetzen, sondern sie anzuerkennen wie sie ist – in diesem Fall schmerzhaft.
Achtsames Schreiben ist Meditation und in der Meditation haben wir eine große Kraft, uns auch schwierigen Dingen zuzuwenden. Halte inne und nimm Zuflucht beim Atem, wenn es schwierig werden sollte.
Im Prozess des Schreibens können wir Achtsamkeit praktizieren. In Bezug auf das Schreiben bedeutet das, allen Empfindungen und Erkenntissen, egal ob angenehm oder unangenehm, mit der gleichen freundlichen Aufmerksamkeit zu begegnen. Mutig offen bleibend, nicht-wissend, atemlos nach innen lauschend, was sich als nächstes zeigen möchte.
Weisheit entwickeln durch Achtsames Schreiben
Bis hierher haben wir vom Schreiben als einem persönlichen, subjektiven Prozess gesprochen. Aber durch das Achtsame Schreiben können wir uns noch eine viel bedeutungsvollere Dimension unseres Seins erschließen: Den Dialog zwischen dem Alltagsbewusstsein und den höheren Bewusstseinsebenen unserer wahren Wesensnatur.
Stelle Fragen und lausche den Antworten aus dem Raum dahinter. Und dann: frage tiefer. Beim Achtsamen Schreiben geht es manchmal mehr um achtsames Lauschen.
Die Qualität dieser inneren Dialoge ist nicht durch Erinnerungen, Erfahrungen, Meinungen und Ansichten eingefärbt und überlagert. Die Erkenntnise zu denen sie führen sind weiter, objektiver, vorurteilsfreier und von unmittelbarer radikaler Ehrlichkeit. Sie ermöglichen uns eine überpersönliche Betrachtung unseres Lebens und der Umstände und können zu heilsamem, auf tiefer Weisheit geborenem Handeln führen.
Das Ende deiner Tiefschlafphase ist erreicht. Ab hier kannst du dir selbst nichts mehr vormachen.
Dein Achtsamkeitsimpuls
News und Inspiration für ein achtsames Leben
Achtsames Schreiben als Erkenntnisweg
Im Prozess des Schreibens kannst du einen Ort des Friedens finden. Und vielleicht gelingt es dir an diesem Ort, ein lange verschüttetes Vertrauen in dich selbst wiederzufinden. Vertrauen in die eigene innere Weisheit ist eine weitere Qualität der Achtsamkeitspraxis.
Du kannst dich selbst erkennen, herausfinden, wer du unter all den Schichten äußerer Konditionierungen wirklich bist. Zu erkennen, wer du immer schon warst, eröffnet dir die Chance, dir selbst ein guter Freund zu werden, ein verlässlicher, treuer Partner für gute wie für schlechte Zeiten.
Mögest du schreibend erkennen:
- alles, was du suchst, ist bereits da.
- alles, was du sein möchtest, bist du bereits.
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