Schmerzen während der Meditation sind leider nicht ganz vermeidbar. Doch wenn du den Schmerz zum Meditationsobjekt machst, kannst du viel über dich herausfinden. Im ersten Teil dieser Trilogie hast du erfahren, wie du unnötige Schmerzen beim Sitzen vermeidest. Nun geht es darum, auf eine kluge Weise mit den unvermeidbaren Schmerzen umzugehen. Diese achtsame Fähigkeit ist von großem Wert für dein Leben.
Trilogie zum Thema Schmerzen in der Meditation | Teil II
- Teil I: 4 Tipps gegen Schmerzen beim Meditieren: Wie du Schmerzen entgegenwirken kannst
- Teil II: Schmerz als Meditationsobjekt: Umgehen mit Schmerzen beim Meditieren
- Teil III: Ein tieferes Verständnis von Schmerzen in der Meditation und im Retreat
Dem Schmerz den Schrecken nehmen
Schmerzen in der Meditation können sich als echter Störenfried erweisen. Wie schwarze Löcher im Universum das Licht absorbieren, kann die gesamte Aufmerksamkeit in den Schmerz hineingezogen werden.
Wer das einmal erlebt hat, konnte eine interessante Erfahrung mit Widerstand machen. Bisweilen scheint sich das ganze Spektrum an möglichen Widerständen abzuspielen: von heftigen Emotionen über quälende gedankliche Szenarien bis hin zum zwingenden Impuls augenblicklich aufzustehen, um der misslichen Lage zu entfliehen.
Widerstand gegen Schmerz ist ganz natürlich
Dieser Widerstand und die Fluchttendenzen sind ganz natürlich. Sie hängen mit unserem inneren Überlebensprogramm zusammen, das fortwährend bemüht ist, die Homöostase, also den Gleichgewichtszustand des „Systems Körper“ aufrechtzuerhalten.
Schmerzen innerhalb dieses Systems stellen eine Bedrohung dar. Erkennt das Programm etwas als bedrohlich, leitet es unmittelbar die Generalmobilmachung ein, um den Gleichgewichtszustand wieder herzustellen.
Aus Überlebenssicht und kurzfristig betrachtet, macht diese Reaktion Sinn. Langfristig und umfassend betrachtet, macht sie uns zu Marionetten unserer Körperreaktionen.
Die Reaktion auf Schmerz ist Teil unseres inneren Autopiloten. Durch einen geschickteren Umgang mit den Schmerzen in der Meditation können wir aus diesem Mechanismus aussteigen und lernen, dem Schmerz seine Bedrohlichkeit zu nehmen.
Diese Fähigkeit kommt dir auch im Alltag zugute: In schmerzhaften Situationen reagierst du nicht länger automatisch-unbewusst, sondern bewusst in angemessener und selbstbestimmter Weise.
Selbstbestimmt und glücklich leben aus der Kraft der Achtsamkeit
Finde deine innere Wahrheit und lebe sie authentisch und frei.
Vom Schmerz als Meditationsobjekt lernen
Wenn Verspannungen, unangenehme Empfindungen und Schmerzen während des Meditierens auftauchen, begegnen wir ihnen mit Achtsamkeit. Das bedeutet, wir weichen ihnen nicht aus, sondern registrieren sie mit vorurteilsfreier Offenheit.
Dabei erforschen wir mit wachem Interesse alle Faktoren, die Teil der Erfahrung des gegenwärtigen Moments sind: den Schmerz als solches, und den inneren Widerstand nebst allen damit zusammenhängenden Emotionen, Gedanken und Impulsen.
Um den Schmerz als Meditationsobjekt zu nutzen, lass deine Aufmerksamkeit sanft in die Körperempfindung hineinführen. In solchen Momenten braucht es eine starke, klare Fokussierung, um nicht von den Vermeidungsreaktionen weggerissen zu werden. Während wir uns der Erfahrung zuwenden, um sie ganz und gar zu erforschen, können wir parallel dazu die inneren Widerstände bemerken.
Erste und zweite Pfeile
Es ist wichtig, die inneren Erfahrungen nicht zu blockieren, indem wir uns in den Gedanken und Emotionen verfangen. Wenn wir bemerken, dass wir dennoch von ihnen absorbiert wurden, können wir zur reinen Empfindung im Körper zurückkehren. Dieser Prozess kann sich etliche Male hin und her bewegen.
Wenn es dir gelingt, den Fokus der Achtsamkeit auf dem Schmerz zu halten und ihn zu erforschen, wirst du eine erstaunliche Entdeckung machen: Zum einen ist da die reine körperliche Empfindung des Schmerzes, zum anderen die Reaktion auf den Schmerz (körperlicher, geistiger und emotionaler Widerstand).
Der Buddha sprach von ersten und zweiten Pfeilen. Erste Pfeile sind unausweichlich, wie zum Beispiel Schmerzen während der Sitzmeditation. Zweite Pfeile bestehen in der Reaktion auf die ersten Pfeile. Die meisten Pfeile die uns treffen, sind zweite Pfeile. Wir schießen sie selbst ab.“
Doris Kirch
Umgehen mit körperlichen und geistigen Reaktionen auf Schmerz
Aus Sicht der buddhistischen Psychologie bilden Körper und Geist eine Einheit – sie sind nicht voneinander getrennt. Die Erfahrungen Meditierender zeigen, dass manche das Entspannen von Körper und Geist als getrennten Prozess erfahren, während andere ihn als einen verbundenen Prozess erleben.
Den Körper entspannen
Körperliche Schmerzen entstehen durch die verkrampfte Muskeln und gestaute Energie. Wir können diese Anspannung lösen, indem wir sanft in die entsprechenden Bereiche hinein- und aus ihm herausatmen. Mit jeder Ausatmen lassen wir die Anspannung etwas und mehr los.
Den Geist entspannen
Der Widerstand gegen den Schmerz zeigt sich jedoch nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Verkrampfung. Deshalb ist es wichtig, auch den Geist sorgfältig zu untersuchen und genau hinzuschauen, welche Einstellung er zum Schmerz hat. Oftmals ist das nicht auf den ersten Blick erkennbar.
Du erkennst die Widerstände an inneren Sätzen wie: „Ich hasse diese Schmerzen“, „Wann hört das endlich auf?“, „Ich kann das nicht aushalten“, „Ich hab‘ da jetzt echt keinen Bock drauf“ oder „Mir reicht’s; ich stehe jetzt auf“.
Das Prinzip des körperlichen Entspannens kann auf den Geist übertragen werden. Allerdings ist der Prozess subtiler und in Worten etwas schwierig zu beschreiben – und das hat etwas mit dem Spannungsfeld zwischen absichtsvoll und absichtslos zu tun.
Schmerz als Meditationsobjekt: Das ziellose Ziel
Eine der Haltungen, die die Achtsamkeitspraxis kennzeichnen, ist „Nicht-Streben“. Damit ist gemeint, anzuerkennen, wie wir im gegenwärtigen Moment sind, ohne danach zu streben, anders sein zu wollen. Dieser scheinbare Widerspruch „ziellos zum Ziel zu gelangen“, kann nur in der Meditation selbst aufgelöst werden.
Den Geist zu entspannen, ist ein Vorgang, der am ehesten metaphorisch beschrieben werden kann. Zum Beispiel im Ausdruck des „absichtlosen Tuns“. Indem wir immer tiefer loslassen, löst sich die vom Verstand erzeugte Barriere zwischen Ich und Schmerz auf.
Wir tauchen in den Schmerz ein und verschmelzen mit ihm, bis das Ich verschwindet und nur noch der Schmerz bleibt – eine reine fließende Energie, deren Bewegung, Qualität und Veränderung wir von Moment zu Moment beobachten und untersuchen können.
Vielleicht war es solch eine Erfahrung, die den chinesischen Philosophen Li Bai zu den folgenden Zeilen inspirierte:
Die Vögel sind in den Himmel entschwunden. Und nun verflüchtigt sich die letzte Wolke.
Wir sitzen zusammen, der Berg und ich bis nur noch der Berg bleibt.“
Widerstände gegen Schmerzen in der Meditation sind meistens auch mit heftigen Emotionen verbunden.
Die Neurowissenschaftlerin Jill B. Taylor schreibt in ihrem bemerkenswerten Buch „Mit einem Schlag“, dass Emotionen eine biochemische Lebensdauer von maximal 90 Sekunden haben. Wenn wir sie in dieser Zeit nicht „aufladen“, indem wir uns in ihnen verstricken oder sie bekämpfen, lösen sie sich von alleine wieder auf.
Übung macht den Meister
Wenn du umsetzen möchtest, was du hier gelesen hast, beginne das Üben am besten mit leichten Schmerzen. Auf diese Weise kannst du die Fähigkeit, Schmerzen mit Akzeptanz und Freundlichkeit zu begegnen, trainieren und allmählich verbessern. Dafür ist eine weitere Tugend der Achtsamkeitspraxis hilfreich: Geduld.
Mit Schmerzen zu arbeiten ist keine masochistische Übung
Mit Schmerzen zu arbeiten ist keine masochistische Übung. Es geht dabei nicht um stoisches Ertragen. Sich auf den Schmerz einzulassen und ihn zu erforschen ist eine Bewusstseinsübung, keine Selbstkasteiung.
Achte deshalb bei allem Enthusiasmus darauf, gut für dich zu sorgen: Wenn der Schmerz wirklich unerträglich ist, dann steh behutsam auf. Bewege dich langsam und sparsam; das wird dich darin unterstützen, den Fokus besser beim inneren Geschehen zu halten.
Missverständnis über Schmerz und Achtsamkeit
Abschließend möchte ich noch etwas zu einem weit verbreiteten Missverständnis sagen. Von den Teilnehmern meiner MBSR-Kurse und Achtsamkeits-Retreats höre ich manchmal: „Ich konnte die Achtsamkeit nicht halten, weil der Schmerz mich ständig abgelenkt hat.“
Schmerz und Achtsamkeit sind nichts Verschiedenes. Achtsamkeit hat immer ein Objekt. Im Fall von Schmerzen sind die Schmerzen das Objekt. Wir können uns des Atems bewusst sein, der uns umgebenden Geräusche oder des Schmerzes.
Die Tatsache des Schmerzes nicht „aufpusten“
Und wenn wir den Schmerz zum Meditationsobjekt machen, dann registrieren wir aufmerksam, wo wir uns in ihn verstricken. Wir nehmen wahr, wo wir ihn vergrößern, indem wir über ihn nachdenken oder ihn mit beängstigenden Szenarien „aufpusten“.
Wir achten darauf, die Schmerzen weder größer noch kleiner zu machen. Statt dessen bleiben wir von Moment zu Moment bei der körperlichen Empfindung. Wir nehmen wahr, wann der Schmerz beginnt und wann er endet, und wir haben ein Bewusstsein für den Schmerz und ebenso für die Abwesenheit von Schmerz.
Wahrnehmen, wann er beginnt und wann er endet; die Anwesenheit von Schmerz ebenso wie die Abwesenheit von Schmerz.
Achtsamer Umgang mit Schmerz
Wenn wir den Schmerz nicht verstehen, werden wir leicht von emotionalen Reaktionen überschwemmt. Sehen wir ihn jedoch mit den Augen der Achtsamkeit, bleiben wir frei von Ärger und Besorgnis. Dann kannst du den Schmerz als das erkennen, was er ist: eine pure körperliche Empfindung, einfach nur Energie. Nicht weniger – aber auch nicht mehr als das.“
Doris Kirch
Training für den Alltag
In der Meditation machen wir also genau das Gegenteil von dem, was wir gewöhnlich bei Schmerzen tun. Statt uns abzuwenden und dem Schmerz zu entfliehen, wenden wir uns ihm direkt zu. Wir tun dies, um mit ihm vertraut zu werden. Denn Angst macht uns nur, was wir nicht kennen.
Die Meditation ist ein Spiegel unseres Alltags. Wie im täglichen Leben erfahren wir auch hier Schmerzen und Widerstände. Die Vermeidungsstrategien sind meistens nicht erfolgreich und ziehen schlimmstenfalls weitere Probleme nach sich.
Wenn du den Schmerz als Meditationsobjekt nutzt, kannst du viel über dich erfahren, weil du dabei deine inneren Widerstände und automatischen Reaktionen erforschst. Auf diese Weise verstehst du den Schmerz besser und nimmst ihm die Macht über dich. Es tut zwar immer noch weh, aber du vergrößerst den Schmerz nicht unnötig und findest Wege, auf eine heilsame und selbstbestimmte Weise mit ihm umzugehen.
Du kannst also die Fähigkeiten, die du durch das Training im Umgang mit Schmerzen entwickelst, im Alltag auf Ärger, Sorgen, Trauer und chronische Depressionen anwenden. So wirst du zu einemgeübten Navigator, der sein Schiff geschickt durch Untiefen und Stürme seines Lebens manövriert.
Schmerz ist nicht gleich Schmerz. In längeren Sitzperioden, zum Beispiel im Stille-Retreat, kommen wir mit einer ganz besonderen Art von Schmerzen in Kontakt. Erfahre mehr darüber in Teil 3 »»
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