Vergebung ist eine heikle Sache. Manchmal fällt es uns schwer zu verzeihen, obwohl wir es gerne tun würden. Kein Wunder, denn das Thema des Vergebens ist überfrachtet mit falschen Vorstellungen. Außerdem wurden wir nie gelehrt, wie wir jemandem vergeben können. Lassen wir die Qualität der Achtsamkeit in den Prozess des Vergebens einfließen, öffnet sich vor uns ein sanfter und sicherer Weg, auf dem wir uns selbst von seelischem Leid befreien.

Achtsamkeits-Podcast

Was ist Vergebung?

Beginnen wir unsere Reise in die Welt der Vergebung mit einer nüchternen und einfachen pychologischen Definition:

Vergeben ist der Prozess einer psychischen Bewältigungsstrategie, die darauf abzielt, ein tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten eines anderen zu akzeptieren, ohne ein Schuldeingeständnis, Reue oder eine Entschuldigung zu erwarten oder Gerechtigkeit zu fordern.

Im realen Leben erweist sich das Thema jedoch als deutlich anspruchsvoller, denn es ist außerordentlich komplex und facettenreich. Das beginnt bereits bei den Begriffen, die im Zusammenhang mit Vergebung verwendet werden. Nicht alle Menschen verbinden mit den Worten „Vergeben“, „Verzeihen“, „Entschuldigen“ oder „Versöhnen“ die gleichen Vorstellungen.

Ein Thema, das viele Fragen aufwirft

Zudem können die Umstände, unter denen jemand seelisches Leid erfährt, hochgradig traumatisch sein. Solche Situationen werfen Fragen auf:

  • Hat sich jemand schuldig gemacht und wenn ja, auf welche Weise?
  • Wer hat wem gegebenenfalls Abbitte zu leisten?
  • Hat die Person, die mir Leid zugefügt hat, es überhaupt „verdient“, dass ich ihr verzeihe?
  • Was mache ich, wenn ich nicht vergeben kann?

Achtsames Vergeben

Vergeben ist ein sehr persönlicher Prozess

Wenn ich hier über Vergebung schreibe, dann tue ich das mit aller Vorsicht und Bescheidenheit. Keinesfalls möchte ich den Eindruck erwecken, den Stein der Weisen zur Vergebung zu besitzen.

Meine Absicht ist, Sichtweisen und Ansätze aus der Perspektive der Achtsamkeitspraxis und der buddhistischen Psychologie aufzuzeigen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass sie hilfreich für einen persönlichen Weg im Umgang mit erlittenem Leid sein mögen.

Ich versuche, in meinen Ausführungen den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu finden. Für ein kleines Ärgernis gelten dabei die gleichen Überlegungen, wie für ein schweres Trauma. Dennoch muss die Vorgehensweise eines Vergebungsprozesses individuell angepasst werden. In einigen Fällen wird sie sogar eine therapeutische Begleitung erfordern.

Was Vergebung so schwer macht

Wenn ich mich mit Menschen unterhalte, denen Leid zugefügt wurde, beiße ich beim Thema „Vergebung“ schon mal auf Granit. Bei näherer Untersuchung des Widerstandes stellt sich dann heraus, dass mit dem Vergeben bestimmte Vorstellungen verbunden sind, die es schwer machen, sich dem Verzeihen zu öffnen.

Unsere Vorstellungen über Vergebung sind Teil unserer elterlichen, schulischen und kirchlichen Erziehung und wir haben sie von frühester Kindheit an ungeprüft übernommen.

Uns diesen Glaubenssätzen mit der Offenheit und dem Anfängergeist der Achtsamkeitspraxis anzunähern, kann uns heute jedoch zu anderen Einschätzungen führen. Wir stellen dann vielleicht fest, dass unsere Vorstellungen über Vergebung nicht den Tatsachen entsprechen und auch nicht förderlich für unseren Seelenfrieden sind.

Schauen wir uns die am weitesten verbreiteten Glaubenssätze über das Vergeben einmal an:

Vergebung bedeutet, so zu tun, als habe der andere mir nicht geschadet

Im Prozess des achtsamen Vergebens tun wir genau das nicht. Im Gegenteil: Wir wenden uns dem Geschehen direkt zu und erkennen und fühlen, was uns angetan wurde. Das ist nicht immer einfach – aber ein notwendiger Schritt im Vergebungsprozess.

Wir sehen deutlich, was geschehen ist, welche Belastung für uns immer noch damit verbunden ist – und wie diese Tatsache unser Leben im Hier und Jetzt beeinflusst.

Verzeihen bedeutet nicht, zu verniedlichen oder zu verdrängen. Wir sehen klar die Verantwortung der Person, die uns Leid zugefügt hat und unsere Vergebung macht diese Verantwortung nicht kleiner.

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Die irrige Annahme, Vergebung funktioniere auf Knopfdruck

Emotionaler Schmerz fühlt sich sehr unangenehm an. Klar, würden wir ihn uns am liebsten auf der Stelle vom Hals schaffen. Vielleicht hegen wir die stille Hoffnung, dass alles wieder gut ist, wenn wir unserem Widersacher auf der Stelle eine „Absolution“ erteilen und damit alles vergeben und vergessen ist.

Aber so funktioniert das nicht. Der Schmerz seelischen Leides kann selbst die letzte Zelle unseres Körpers erreichen und sich dort festsetzen. Mit einer bloßen „Geste“ kriegen wir ihn da nicht wieder raus.

Wir müssen uns bewusst sein, dass achtsames Vergeben ein Prozess ist, der Zeit braucht – manchmal sogar Jahre.

Und hier kommt wieder die Achtsamkeit ins Spiel, denn eine ihrer Grundhaltungen ist Geduld. Wir können den Prozess des Vergebens also gleichzeitig als Übung zum Vertiefen unserer Achtsamkeitspraxis nutzen.

Vielleicht gefällt dir der Gedanke, Vergebung als eine besonders herausfordernde Achtsamkeitspraxis anzusehen.

Vergebungsprozess

Anhaften am Konzept von Schuld, Sühne, Rache und Bestrafung

Ich glaube, jeder kennt diesen spontanen Impuls, jemandem der einem ein Leid zugefügt hat, ebenfalls ein Leid zuzufügen. Das fühlt sich erst einmal gut an und wir fühlen uns besser. Wie du mir, so ich dir. Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert. Da muss dann auch schon mal die Bibel für die eigenen Rachegelüste herhalten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Rachephantasien sind eine ganz natürliche Reaktion auf erlittene Schmach. Aber jeder, der schon einmal Rache an einem anderen geübt hat, durfte mindestens zwei ernüchternde Erfahrungen damit machen:

  1. Der andere rächt sich im Gegenzug wieder – was einen leidvollen Teufelskreis in Gang setzen kann.
  2. Der Zustand der Befriedigung hält nicht lange an.

Es jemandem heimgezahlt zu haben, hinterlässt langfristig einen schalen Geschmack. Jedenfalls bei demjenigen, der den Anspruch hat, ein „guter Mensch“ zu sein. Mit den Augen der Achtsamkeit können wir jedoch sehen, wohin eine unbedachte Vergeltungsmaßnahme uns führt.

Stellen wir fest, dass uns nicht gefällt wo wir durch unsere Rache landen, können wir uns dafür entscheiden, vom Konzept der Schuld, Sühne und Bestrafung abzurücken. Damit betreten wir einen völlig neuen geistigen Raum mit ganz anderen Möglichkeiten, die uns erlauben, als der Mensch zu handeln, der wir sein wollen.

Die Angst, jemanden durch das Verzeihen wieder ins eigene Leben zu holen

Diese Angst ist unbegründet. In meinem Leben zum Beispiel gibt es einen Menschen, von dem ich mich in einer schwierigen Situation im Stich gelassen fühlte. Über die Zeit konnte ich ihm vergeben. Ich habe ihm inzwischen auch gesagt, dass ich sein Handeln heute nachvollziehen kann und ihm nichts nachtrage.

Gleichzeitig verspüre ich bis heute keinen Impuls, die alte Beziehung wieder aufzunehmen und diese Person erneut in mein Leben zu holen.

Zu vergeben, zieht keine Verpflichtungen irgendwelcher Art nach sich.

Sich Vergebung als Ziel setzen

Neben den bereits angesprochenen Haltungen der Achtsamkeit (Offenheit, Anfängergeist und Geduld) gibt es eine weitere Haltung, die ebenfalls hilfreich im Vergebungsprozess ist: das Nicht-Streben.

Nicht-Streben lädt uns ein, „ziellos zum Ziel zu gelangen“. In unserem Fall bedeutet das, die Vergebung nicht zu einem festgemeißelten Ziel zu machen, das es unerbittlich zu verfolgen gilt.

Nach meiner Erfahrung ist es hilfreicher, von Absicht als von Ziel zu sprechen. Absicht ist ergebnisoffen und betont das Prozesshafte, in Bewegung Befindliche. Wir sind absichtslos absichtsvoll – ein scheinbares Paradox, dessen Verständnis und heilsame Wirkung sich nur in der Geisteshaltung der Achtsamkeit erschließt.

Absicht ist eine innere Haltung, mit der wir die grundsätzliche Bereitschaft zum Vergeben bekunden. In diesem Sinne äußert sich auch der Psychologie-Professor Robert Enright, der das Thema Vergebung umfassend erforscht hat:

„Vergebung ist ein Ziel, das ständig in Bewegung ist. Mal scheint es einem zum Greifen nah, dann wieder fast unerreichbar. Fortschritte und Rückfälle wechseln sich ab, das ist völlig normal.“

Ich vergebe dem anderen, damit er sich besser fühlt

Ein weiterer Irrtum über das Vergeben. Wenn wir jemandem vergeben, tun wir das nicht für ihn. Wie der Widersacher damit umgeht, dass wir ihm verzeihen, ist für uns weder relevant noch interessant. Wir tun das für uns selbst, weil wir uns von den Fesseln der Vergangenheit befreien wollen.

Wir wollen unsere Lebensqualität im Hier und Jetzt nicht länger von Ereignissen der Vergangenheit bestimmen lassen. Wir wollen inneren Frieden finden. Wir wollen frei und glücklich sein und uns mit unbeschwertem Herzen der Liebe und dem Vertrauen öffnen.

Warum sollte ich vergeben?

Die heilende Kraft der Vergebung

An Wut, Hass, Verzweiflung und Angst festzuhalten, fördert die Neigung zu Depressionen und wirkt sich negativ auf unser Wohlbefinden aus. Parallel dazu schädigen wir damit auch unsere körperliche Gesundheit. Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie belegen, dass seelische Belastungen das Immunsystem massiv beeinträchtigen.

Im Umkehrschluss: Zu vergeben, ist förderlich für die geistige und körperliche Gesundheit. Eigentlich sollte das bereits Motivation genug sein.

Es geht jedoch auch um die Frage von Lebensqualität. Die Last unverarbeiteter emotionaler Verletzungen mit sich herumzutragen, lässt auf Dauer jegliche Lebensfreude versiegen.

Wurden wir belogen, betrogen, hintergangen oder missbraucht und halten wir an der Wut darüber fest, bedeutet das nichts anderes, als dass wir dem Aggressor gestatten, (weiter) in uns zu leben. Die angestauten Gefühle über das Geschehene nehmen so viel Raum ein, dass kein Platz mehr für andere (gute) Gefühle bleibt.

Vergeben und innere Freiheit erlangen

Im Vorfeld zu diesem Beitrag sprach ich mit einer Freundin, die vor einiger Zeit intensiv mit Vergebung gearbeitet hat. Sie beschrieb, dass sie in diesem Prozess durch verschiedene Höhen und Tiefen gegangen ist. Nach einigen Hürden war es ihr irgendwann möglich, zu vergeben.

Sie sagte: „Nach der Vergebung fühlte ich mich auf eine angenehme Weise leer.“ Und genau so kann man sich das vorstellen. Indem wir die bislang gebundenen Gefühle loslassen, entsteht ein neuer Raum in uns. Wir können uns dafür entscheiden, die Leere und Weite dieses Raumes zu genießen oder ihn mit Mitgefühl, Selbstmitgefühl und Liebe anzufüllen.

Wie kann ich vergeben?

Schritte der Vergebung

In der Literatur und im Internet ist oft von „Schritten der Vergebung“ die Rede. Für mich erzeugt das die Illusion, man würde sich kontinuierlich innerhalb eines berechenbaren, vorhersagbaren Systems bewegen, an dessen Ende die „Befreiung“ winkt.

Nach meiner Erfahrung kann das so sein. Aber vielfach entwickelt sich solch ein Prozess eher integral als kausal-linear. Deshalb ist achtsame Vergebung für mich einen Weg, der selbst das Ziel ist. Auf diesem Weg gehen wir manchmal kleine Seitenwege oder Umwege – und manchmal auch ein paar Schritte zurück.

Deshalb spreche ich im Folgenden nicht von Schritten, sondern von Aspekten des Vergebungsprozesses, die an der einen oder anderen Stelle hilfreiche Wegbegleiter sein können.

Vergeben

Am Anfang des achtsamen Verzeihens

Am Anfang des Weges steht ein Entschluss. Er könnte ungefähr so lauten: „Ich nehme diesem Geschehen die Macht, mein Leben im Hier und Jetzt zu vergiften.“

Vielleicht findest du eigene Worte für die Absicht, dich dem Prozess des Verzeihens zu öffnen. Wichtig ist, dir bewusst zu sein, dass du eine Wahl hast. Du kannst dich dafür entscheiden, dir dein Leben durch Missbrauch, Lug und Betrug zerstören zu lassen – oder aber nicht.

Du hattest keine Entscheidung über das Eintreten der Situation, die dich verletzt hat. Aber die Entscheidung darüber, wie es jetzt weitergeht, liegt in deiner Hand.

Höre auf deine innere Stimme und folge deinem Gefühl

Für unsere Familienangehörigen und Freunde ist es oft schwer auszuhalten, wenn sie miterleben, dass wir leiden. Sie wünschen sich so sehr, dass dieses Leid für uns möglichst schnell ein Ende hat (und für sie damit auch), dass sie zum Verzeihen drängen.

Als Folge dieses Drucks entsteht dann noch mehr innerer Widerstand als vorher schon da war. Wie ich bereits sagte, ist achtsame Vergebung ein ganz persönlicher Prozess, den jeder in seinem eigenen Tempo gehen muss.

Alles was du brauchst, trägst du bereits in dir

Nach meiner Überzeugung trägt jeder Mensch alles, was er zum Vergeben braucht, bereits in sich. Manchmal erfordert es Zeit und Übung, die innere Stimme wieder zu hören, die weiß, was gut für uns ist. Aber es lohnt sich, geduldig darauf zu lauschen.

Lass dich nicht zur Vergebung drängen

Jemandem zu vergeben, kann man nicht forcieren und es auch nicht künstlich herbeiführen. Manchmal muss man sich durch ganze Schichten von Schmerz hindurcharbeiten.

Es kann zum Beispiel eine harte Konfrontation mit der Realität sein, wenn man plötzlich vor der Aufgabe steht, sich aus der Täuschung über eine rosa gemalte Vergangenheit zu lösen.

Sabina beschreibt ihre Kindheit geradezu idyllisch. Aber jedem Außenstehenden, der auch nur ein paar Eckdaten ihres Lebens erfährt, wird sofort klar, dass sie in ihrer Kindheit sehr viel Leid und Entbehrung erfahren musste.

So kreieren wir uns manchmal eine verklärte Vergangenheit, um uns dem Schmerz der Realität nicht stellen zu müssen. Aber es ist im wahrsten Sinne des Wortes not-wendig, uns diesen traumatischen Erfahrungen aufrichtig zuzuwenden. Denn nur wenn wir alle Details sehen, können wir sie auch bearbeiten, verstehen und integrieren.

Manchmal wird dann deutlich, dass es mit einem einzelnen Akt des Verzeihens nicht getan ist. Das Geschehen ist oft komplex und nicht selten sind mehrere Personen daran beteiligt. Einzelne Personen, Situationen oder Details können eine ganze Reihe von Vergebungen erforderlich machen.

Verankere dich im Selbstmitgefühl

Im Prozess des Vergebens gibt es eine weitere hilfreiche Eigenschaft der Achtsamkeitspraxis: Selbstmitgefühl.

Sich dem verletzenden Geschehen und der Möglichkeit zur Vergebung zu öffnen, ist ein Prozess, der nicht unbedingt sanft ist. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man sich darauf einlässt.

Vielleicht wirst du zeitweise hadern, weinen oder toben. Die Gefühle können unangenehm sein, deshalb solltest du gut auf dich achten. Schau immer, wo du gerade stehst und wie es dir dabei geht. Es wird Tage geben, an denen du von Mut und Kraft erfüllt bist und Tage, an denen eher Schutz und Rückzug angesagt sind.

Mitfühlend mit dir selbst zu sein bedeutet, allen auftretenden Gefühle und Gedanken mit Freundlichkeit zu begegnen. Lass dich von nichts und niemandem treiben und gib deinem Weg des Verzeihens die Zeit, die er braucht.

Vergebung und Achtsamkeit

Achtsame Akzeptanz im Prozess des Vergebens

Akzeptanz ist nicht nur eine der Haltungen der Achtsamkeit, sie ist auch Ausdruck unseres Verstehens, dass wir die Vergangenheit nicht ändern können.

Akzeptanz zu praktizieren, bedeutet nicht, mit dem Geschehen einverstanden zu sein. Sie erkennt an, dass es geschehen ist. Und sie erkennt auch den Schmerz an, den wir angesichts des damaligen Geschehens heute noch spüren.

Das Geschehen und die Wut zu leugnen, bringt uns keinen Schritt weiter. Aber anzuerkennen, dass der Schmerz da ist und ihn vollständig zu fühlen, kann alles verändern.

Wenn sich Schmerz in Dankbarkeit verwandelt

Als ich mich erstmals dem Schmerz eines Kindheitstraumas stellte, verwandelten sich die leidvollen Gefühle plötzlich in Dankbarkeit. Ich glaube nicht, dass ich den Berufsweg einer Achtsamkeitslehrerin und -ausbilderin eingeschlagen hätte, wenn dieses traumatische Erlebnis (und andere schmerzvolle Lebenssituationen) nicht gewesen wären.

Die Ereignisse als solche heiße ich natürlich nach wie vor nicht gut und ich muss mit ihren Folgen leben. Gleichzeitig komme ich nicht umhin, anzuerkennen, dass sie dazu beigetragen haben, mich zu dem Menschen zu machen, der ich heute bin. Und diesen Menschen mag ich ziemlich gerne.

Vergeben braucht Übung

Wahrscheinlich bist auch du in deinem Leben schon belogen worden, man hat dein Vertrauen missbraucht oder dich durch Worte verletzt. Jeder, der sein Leben durchforstet, kann anschließend eine mehr oder weniger lange Liste der emotionalen Verletzungen erstellen, die er erlitten hat.

Nicht jedes dieser Geschehnisse wiegt gleich schwer. Wenn du damit beginnst, dich dem Vergeben zuzuwenden, dann starte nicht gleich mit dem größten Trauma. Wähle besser kleine Ärgernisse, die dir immer noch wie ein Stachel im Fleisch sitzen. Fang am besten mit einem Ereignis an, das auf einer Skala von 1 bis 10 einen Schwierigkeitsgrad von ungefähr 3 hat.

Mach dich behutsam mit dem Vergeben vertraut. Auf diese Weise entwickelst du ein gutes Gespür für diesen Prozess und erlangst durch das Sammeln von Erfahrungen die Fertigkeiten für ein mitfühlendes und umsichtiges Vorgehen.

7 Vorschläge für Vergebungsübungen und Vergebungsmeditationen

Verzeihen kann auf viele Weisen geschehen. Welche Vergebungsübungen oder Vergebungsmeditationen du wählst und wie du dabei vorgehst, hängt von deiner psychischen Grundstruktur ab, von den Umständen des Ereignisses und davon, was geschehen ist und wie lange es zurückliegt.

Ein aktueller frischer Schmerz hat einen anderen „Geschmack“ und braucht vielleicht eine andere Vorgehensweise als ein alter Schmerz, der schon lange in dir wühlt.

1.  Direkte Konfrontation

Ob eine direkte Konfrontation mit dem Menschen der uns verletzt hat, sinnvoll ist, darüber streiten sich die Gelehrten. Nach meiner Erfahrung kann eine direkte Konfrontation durchaus zu einer temporären emotionalen Entlastung führen. Aber ich habe noch nicht erlebt, dass sie seelische Wunden geheilt hat.

Vergeben erfordert keine direkte, persönliche Konfrontation mit der Person, die uns verletzt hat; sie muss nicht körperlich anwesend sein! Die Erfahrung zeigt sogar, dass Selbstheilung durch Vergebung auch dann funktioniert, wenn der andere bereits verstorben ist.

Vergebung über Zeit und Raum

Ich höre immer wieder davon – und habe es selbst schon oft erfahren – dass wir offenbar ein menschliches Bewusstsein teilen, in welchem Kommunikation auch ohne physischen Kontakt möglich ist. Mir fehlt zwar ein tragfähiger Erklärungsansatz dafür, aber Vergebung funktioniert ganz offensichtlich sogar über Zeit und Raum.

2.  Tagebuchschreiben

Es gibt mittlerweile viele wissenschaftliche Untersuchungen, die die therapeutische Wirksamkeit des Tagebuchschreibens belegen. Achtsames Schreiben ist eine einfache aber tiefgreifende Achtsamkeitspraxis, die hilfreich für den Prozess des Vergebens genutzt werden kann. Das geschriebene Wort bringt mehr Klarheit und hat eine heilsamere Wirkung als das gedachte Wort.

Erfahre mehr über die heilsamen Wirkungen von achtsamem Schreiben →

3.  Einen Brief schreiben

Die psychologische Wirkung des Briefeschreibens ist mit der des Tagebuchschreibens vergleichbar. Was in solch einem Brief geschrieben werden kann, ist völlig offen. Wichtig dabei ist die Frage, ob der Brief am Ende abgeschickt werden soll oder nicht. Auch das ist eine ganz persönliche Entscheidung.

Überlege dir vor dem Schreiben, ob du den Brief anschließend abschicken möchtest.

Es gibt Dinge, die wir jemandem mitteilen möchten, ohne sie ihm direkt zu sagen.

Vielleicht beginnst du mit der Absicht, den Brief zu versenden, entscheidest dich am Ende aber doch dagegen. Die Absicht, deinen Brief abzuschicken, solltest du auf jeden Fall eine Nacht überschlafen.

Ein bewährtes Ritual für unabgeschickte Briefe ist, sie der transformierenden Kraft des Feuers zu übergeben: Verbrenne den Brief rituell in einem schönen Vergebungsritual.

4.  Therapeutisches Rollenspiel

Rollenspielmethoden haben in der Verhaltenstherapie eine lange Tradition. Weil solch ein Rollenspiel starke Emotionen auslösen kann, sollte es nur unter Anleitung einer therapeutisch erfahrenen Person durchgeführt werden.

5.  Systemische Aufstellungsarbeit

Bei der systemischen Aufstellungsarbeit handelt sich um eine Methode, Dynamiken und Beziehungen innerhalb eines bestehenden Systems sichtbar zu machen.

Dazu werden „Stellvertreter“ für die eigene Person und andere an einer Situation beteiligte Personen aufgestellt, die miteinander agieren. Das Szenario führt zu mehr Klarheit und bringt Bewegung in festgefahrene Situationen – und auch in festgefahrenes Denken und Fühlen.

6.  Vergebungsmeditation

Ein wirkungsvolles Mittel zum Heilen von emotionalem Schmerz ist die Metta-Meditation. Diese Meditation der liebenden Güte fördert die Qualitäten eines mitfühlenden Herzens und damit die Fähigkeit, zu vergeben.

7.  Vergebungsübung

Der Klassiker im Vergebungsprozess ist die Übung mit bestimmten Vergebungssätzen. Ich persönlich hege gewisse Vorbehalte gegen diese Vergebungssätze – auch wenn sie beim Vergeben als „Goldstandard“ gelten.

„Ich vergebe dir“, sind starke Worte. Aber nicht jeder von uns ist ein Nelson Mandela.

Zitat Vergebung

Bei einer sehr heiklen Person in meinem Leben wollten mir diese Worte einfach nicht über die Lippen kommen. Gleichzeitig fühlte ich jedoch bei dem Gedanken, diesem Menschen zu verzeihen, tiefen inneren Frieden.

Wenn auch du mit diesen Vergebungssätzen deine Probleme hast, dann fühle dich frei, andere Worte des Verzeihens zu wählen – oder finde andere Wege, deine Vergebung zum Ausdruck zu bringen.

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Vergebungsübung in drei Teilen

Die Vergebungsübung umfasst drei Aspekte: Dem anderen zu verzeihen, den anderen zu bitten, uns zu verzeihen und uns selbst zu verzeihen.

Dies sind von mir speziell formulierte Vergebungssätze:

  1. „Ich verzeihe dir diese absichtliche oder unabsichtliche Handlung, durch die ich mich verletzt fühle.“
  2. „Ich bitte dich, mir zu verzeihen, wenn das, was ich absichtlich oder unabsichtlich tat, dich verletzt hat.“
  3. „Ich verzeihe mir alles, mit dem ich mir aus Unwissenheit selbst Schaden zugefügt habe.“

Häufig lese ich Vergebungssätze in diesem Wortlaut: „Ich verzeihe dir, dass du mich verletzt hast“. Diese Formulierung setzt den anderen direkt in die Schuld. Um das zu vermeiden, habe ich im ersten Satz eine Formulierung gewählt, die den anderen nicht beschuldigt.

Denn manchmal ist es so, dass sich die andere Person nicht wirklich „schuldig“ gemacht hat. Vielleicht war ihre Handlung objektiv betrachtet sogar korrekt. Dennoch fühlen wir uns verletzt.

Die obige Formulierung stellt uns von der Klärung einer Schuldfrage frei. Und gleichzeitig ermöglicht sie, die Verantwortung für unsere eigenen Gefühle zu übernehmen.


Vergebungsübung, Anleitung, 16 Minuten


Achtsames Vergeben ist nichts für Feiglinge

Das mit dem Feigling ist natürlich metaphorisch gemeint. ;o) Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Achtsames Vergeben erfordert Mut. Und es braucht weitere Qualitäten, die wir aus der Achtsamkeitspraxis kennen: Selbstmitgefühl, Gegenwärtigkeit, Akzeptanz, Milde und Geduld.

Verzeihen ist nicht passiv. Der Prozess erfordert die feste Absicht, sich auf ihn einzulassen. Und er braucht Zeit. Manchmal dauert es Jahre bis man sich durch die schwierigen Emotionen hindurchgearbeitet hat. Aber im Laufe der Zeit wird es möglich, immer mehr Wut und Verbitterung loszulassen.

Wenn du Vergebung als Teil deiner Achtsamkeitspraxis lebst, wird sich dir früher oder später unvermeidlich die Erkenntnis erschließen, dass du größer bist, als die Verletzung, die du erlitten hast.

Möge es dir möglich sein, dein Herz für Vergebung zu öffnen. Jeden Tag ein kleines bisschen mehr.

© Doris Kirch, 2022