Selbstmitgefühl ist ein Weg, um unseren emotionalen Schmerz zu heilen. Die Selbstmitgefühlspraxis ist jedoch alles andere als egozentriert. Paradoxerweise erweisen sich die ich-übersteigenden Qualitäten des Mitgefühls als der heilsamste Faktor. Im tiefsten Erkennen unserer gemeinsamen Menschlichkeit finden wir den Schlüssel zur Heilung unseres Lebens.

Auf den ersten Blick scheint scheint es paradox: Einerseits leben wir in einer Leistungsgesellschaft die völlig selbst-fixiert ist und andererseits scheint es nur wenige Menschen zu geben, die selbst-mitfühlend mit sich umgehen.

Bereits in der Schule werden unsere noch prägungsfähigen neuronalen Netzwerke nicht auf Selbstmitgefühl, sondern auf Wettbewerb programmiert. Über Zensuren und Vergleiche mit anderen lernen wir uns zu behaupten und anzustreben, stets das größte Stück vom Kuchen abzubekommen. Später kämpfen wir uns im Job unter Einsatz unserer Ellenbogen karrierebewusst und zielstrebig nach oben an den Anfang der Nahrungskette.

Ein Selbst ohne Selbstmitgefühl

Wir treiben unser Selbst an aber wir pflegen es nicht.

Obwohl sich alles um uns selbst dreht und wir unser „Ich“ nach allen Regeln der Kunst „pimpen“, sind wir Teil einer Gesellschaft, in der Selbstmitgefühl nicht als eine erstrebenswerte Tugend gilt. Wir treiben unser Selbst an aber wir pflegen es nicht. Daraus resultiert: Viele Zeitgenossen haben im Kampf um Macht, Status, Geld und Anerkennung die Verbindung zu sich selbst verloren.

Es ist schon seltsam, dass wir beständig um unser Ich kreisen aber kaum einen echten Bezug zu ihm haben – zumindest keinen freundlichen. Um zu verstehen, wie es zu dieser unseligen Ambivalenz kommt, ist es hilfreich zu verstehen, was dieses Selbst überhaupt ist.

Was ist das ‚Selbst‘?

Es gibt verschiedene Bedeutungsvarianten des Selbst. Gewöhnlich definieren wir es in Form der Antwort, die uns zu der Frage „Wer bin ich?“ einfällt. Das Selbst oder Selbstkonzept ist also das Bild, das wir von uns selbst haben. Andere Bezeichnungen für das Selbst sind Identität oder Ego.

Aus Sicht der Neurowissenschaft und der Psychologie handelt es sich beim Selbst um ein geistiges, von unserem Gehirn erzeugtes Konstrukt, das in verschiedenen Kontexten unterschiedlich erfahren und definiert werden kann.

Das Selbst ist Teil unseres genetischen Erbes, das nur einem Ziel verpflichtet ist: das Überleben der Art zu sichern. Damit das Individuum motiviert war, sich um sein Überleben zu kümmern, brauchte es das Bewusstsein, sich selbst als etwas Schützenswertes zu erleben. (Damals sicherlich noch nicht der der Form des differenzierten Bewusstseins, das wir heute von uns haben).

Das Ich und die anderen

Um uns als „Ich“ zu erfahren, müssen wir im Geist eine Grenze ziehen. Alles, was innerhalb dieser Grenze liegt, erfahren wir als Selbst, alles außerhalb dieser Grenze erleben wir als Nicht-Selbst. Unsere Identität hängt davon ab, wo wir diese Grenze ziehen. Die elementarste Grenze ist zunächst einmal die der Haut, die unseren Körper von der Umwelt abgrenzt.

Im Zuge der Evolution und der Entwicklung des Großhirns entwickelten sich differenzierte Beziehungsfähigkeiten und das Selbst erweiterte sich von „ich“ auf „mich“ und „mein“. Wir ziehen Grenzen um „mein“ Geschlecht, „meine“ Familie, „meine“ Stadt, „meine“ Nationalität, „meine“ Hautfarbe, „meine“ Religion usw.

Alles, was außerhalb dieser Ich-Erweiterung liegt, ist „Nicht-Ich“ und wird im Zweifelsfall gegen „Ich“ verteidigt. Ein kurzer Blick auf die Welt zeigt, welche unheilsamen Auswirkungen dieser evolutionäre Automatismus nach sich ziehen kann.

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Wenn Mitgefühl und Selbstmitgefühl verloren gehen

Sind wir völlig verfangen in dieser begrenzten und illusorischen Vorstellung eines Selbst, schaffen wir Abgrenzungen zu anderen – aber auch zu verschiedenen Anteilen unserer selbst. Durch diese Einteilung in „Freund“ und „Feind“ geht nicht nur das Mitgefühl für andere verloren, sondern auch die Fähigkeit zu Selbstmitgefühl.

Der Preis dafür ist hoch. Wir erleben durch die Grenzziehung zwischen Selbst und Nicht-Selbst den enormen Schmerz interpersonaler, intrapersonaler und existenzieller Isolation. Denn als menschliche Wesen sind wir eigentlich auf Verbundenheit angewiesen – evolutionär bedingt wollen wir uns als „zum Rudel zugehörig“ fühlen.

Doch die Abgrenzung zwischen uns und anderen, der Verlust der Beziehung zu Anteilen in uns selbst und das Gefühl, von der Welt getrennt zu sein, können zu Frustration, Einsamkeit, Angst, Hoffnungslosigkeit und zu schweren depressiven Zuständen führen.

Buddha und die Lehre vom „Nicht-Selbst“

Ein Selbst, das es nicht gibt, lebt in einer „Realität“, die eine Illusion ist. Das hört sich verrückt an – aber neu ist diese Erkenntnis keineswegs. Der Buddha hat das schon vor zweieinhalbtausend Jahren im Zuge der meditativen Erforschung seines eigenen Geistes erkannt.

Daraus entstand die Lehre des Nicht-Selbst (Anata). Sie besagt, dass nichts in unserem Universum aus sich heraus existiert. Nichts hat ein festes, unveränderliches und unabhängiges Selbst. Alle Erscheinungen existieren nur in Abhängigkeit von bestimmten Umständen und Bedingungen. Grenzen existieren demnach nur in unserer Vorstellung.

Einstein

Eine weitere Bestätigung dieser Sichtweise kommt aus einer eher unerwarteten Ecke: von dem Physiker Albert Einstein. Er äußerte sich zur Illusion des Getrenntseins in einem Brief, den er an einen trauernden Vater schrieb, folgendermaßen:

„Ein Mensch ist ein Teil des Ganzen, das wir ›Universum‹ nennen: ein Teil, der durch Zeit und Raum begrenzt ist. Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als etwas vom Übrigen Getrenntes – eine Art optische Täuschung seines Bewusstseins. Diese Täuschung ist ein Gefängnis für uns, das uns auf unsere persönlichen Bedürfnisse und die Zuneigung zu einigen wenigen Menschen beschränkt, die uns nahe sind. Unsere Aufgabe ist es, uns aus diesem Gefängnis zu befreien, indem wir den Kreis des Mitgefühls erweitern und alle lebenden Wesen und die gesamte Natur in ihrer Schönheit umarmen.“

(Albert Einstein)

Den Kreis des Mitgefühls erweitern

Wenn wir davon ausgehen, dass Buddha, Einstein, die Neurowissenschaftler und Psychologen sich nicht irren, dann ist das Selbst eine fragile, veränderbare geistige Konstruktion, die in Wirklichkeit keine Substanz hat, also in sich leer ist.

Um unser Überleben zu sichern, gaukelt unser Gehirn uns also in jedem Moment unseres Lebens ein Ich und eine Wirklichkeit vor, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Für manchen eine seltsame Vorstellung.

Neben dieser objektiven Wahrheit gibt es jedoch noch eine subjektive Wahrheit. Denn in unserem Bewusstsein als Mensch gibt es nun einmal diese Vorstellung des Selbst mit all seinen Vorteilen, Möglichkeiten und Problemen. Und – ob real oder nicht – wir erleben durch unsere Sinne die Welt auf eine ganz bestimmte Weise. Und wir haben uns mit ihr auseinanderzusetzen, wie wir sie vorfinden.

Selbstmitgefühls-Achtsamkeitstraining

 

Durch Achtsamkeit und Selbstmitgefühl die Trennung überwinden

Viele Probleme und viel emotionaler Schmerz in unserem Leben entstehen durch das Gefühl der Isolation, das durch die Illusion der Trennung hervorgerufen wird. Auch in der Selbstmitgefühlspraxis ist ein starres Selbstkonzept ein großes Problem. Besonders deutlich wird es, wenn es in der Meditation der Freundlichkeit (Metta-Meditation) darum geht, einem „schwierigen“ Menschen zu wünschen, dass es ihm wohlergehen möge. Da beißt mancher trotz guter Absichten bei seinem Selbst voll auf Granit.

Ein Selbst ohne Mitgefühl ist im Dauerstress

Auch das Wissen, sich durch das Festhalten an Hass, Groll und Unversöhnlichkeit ausschließlich selbst zu schaden, beeindruckt das Selbst oft in keiner Weise. Genau da zeigt sich das Problem der „Ich-Illusion“. Wenn diese Sichtweise zu verfestigt ist, kommt es zur Selbst-Überidentifikation und zur Selbst-Absorption.

Weil das Selbst glaubt, sich mit Zähnen und Klauen gegen ein feindliches „Nicht-Selbst“ verteidigen zu müssen, befindet es sich ununterbrochen in einem getriebenen Alarm- und Antriebs-Modus – also im Dauerstress. Das Denken wird eng und kreist nur noch um die eigene Person und die eigene Problematik. Andere (heilsame) Sicht- und Verhaltensweisen finden in das Denken und Fühlen keinen Einlass. Der Pegel des nach oben offenen emotionalen Leidensbarometers steigt.

Das Selbst ist ein vortrefflicher Diener
aber ein grausamer Herr.

Doris Kirch

Das Selbst: Ein vortrefflicher Diener – ein grausamer Herr

Wie wir gesehen haben, kann das Selbst für uns zum Gefängnis werden. Es geht also darum, es als Hilfsmittel zu benutzen, anstatt von diesem geistigen Konstrukt beherrscht zu werden. Unser Leben erfährt mehr Leichtigkeit, wenn wir mit Achtsamkeit wahrnehmen, wann und womit wir uns identifizieren.

Anstatt uns mit dem Selbst über-zu-identifizieren sind wir Zeuge des Prozesses der Identifikation und können besser erkennen, ob das in einer bestimmten Situation heilsame oder unheilsame Konsequenzen hat. Und wir sind in der Lage, uns erforderlichenfalls zu ent-identifizieren. Das bringt mehr Leichtigkeit und Selbstbestimmtheit in unser Leben.

Die heilende Kraft des Selbstmitgefühls

Es gibt mittlerweile viele wissenschaftliche Studien, die bestätigen, dass Mitgefühl Auswirkungen auf die körperliche und psychische Selbstheilungsfähigkeit hat. Aber auch wenn wir psychische Beschwerden lindern, indem wir lernen, mit unseren Gedanken, Verhaltensweisen und Beziehungen heilsamer umzugehen, bleibt oft ein Gefühl von Leere zurück. Wir spüren die Auswirkungen der durch unseren Geist fragmentierten Wirklichkeit und fühlen uns nicht wirklich gesund im Sinne von heil und ganz.

Sprechen Ärzte oder Psychologen von Gesundheit, haben sie dabei oft Kurieren im Sinn. Manchmal ist jedoch keine Heilung oder Wiederherstellung möglich. Zum Beispiel kann ein schweres Trauma nicht ungeschehen gemacht werden. Aber trotzdem kann eine Ganzheit im Sinne eines Heil-Seins erfahren werden.

Eine ganzheitliche Sicht von Heilung

Die Verbindung von Ganzheit, Verbundenheit und Heilsein spiegelt sich in der englischen Sprache wieder: whole = ganz, unversehrt, vollständig; holy = heilig. Die Bedeutung von Heilen liegt demnach im Heiligmachen, in in der Erfahrung der Ganzheit. Auch der Psychoanalytiker C. G. Jung wies auf den Zusammenhang von Heilung und dem Heiligen hin:

So enthalten die Tiefen, die Schichten äußerster Unbewusstheit, (…) zugleich den Schlüssel zur individuellen Ganzheit, mit anderen Worten, zur Heilung.

C. G. Jung

Sich dem Schmerz mitfühlend zuwenden

Wir erfahren diese Ganzheit zum Beispiel, indem wir lernen, uns dem Schmerz mit Selbstmitgefühl zuzuwenden. Das hört sich leichter an, als es oft ist. Manchmal sitzen Wut, Traurigkeit, Scham und Schuldgefühle tief und dort hinzuschauen, empfindet unser inneres System bedrohlich. Es macht sich lieber aus dem Staub oder geht in den Widerstand und zieht alle Register der Verdrängung.

Um sich dem Schmerz zuzuwenden braucht es Kraft, Mut und eine gewisse Geschicklichkeit. Deshalb kann es hilfreich sein, diesen Prozess mit Gleichgesinnten zu erforschen, zum Beispiel im Rahmen eines Kurses in achtsamem Selbstmitgefühl.

Care, wo kein Cure möglich ist

Nicht immer ist eine Heilung des primären Leidens möglich (cure).  Aber wir können uns mit achtsamem Selbstmitgefühl fürsorglich um die vielen sekundären Leiden kümmern, die aus unserem Umgang mit dem primären Leid entstehen (care).

Indem wir das tun, erfahren wir auf einer tiefen Ebene das Gefühl, ganz und heil zu sein. Auf der engen, selbstbezogenen Ebene des über-identifizierten Ich ist diese Erfahrung nicht möglich. Ganzheit und damit Heil-Sein erfahren wir nur im Raum jenseits des Selbst. Dazu entwickeln wir im Zuge der Selbstmitgefühlspraxis ich-überschreitende Qualitäten, indem wir zum Beispiel in der Mitgefühls-Meditation freundliche Wünsche nicht nur auf uns selbst sondern auch auf andere Personen/Wesen richten – auch auf solche, mit denen wir Probleme haben.

Einheit, unser wahres Zuhause

Das Ich fragmentiert die Wirklichkeit, die in Wahrheit eins ist. Es teilt sie auf in Ich und Du, Wir und Sie, Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Gut und Böse, Richtig und Falsch, Freund und Feind. Diese Unterscheidungsfähigkeit sichert unser Überleben, denn sie gibt uns Orientierung. Aber sobald sich Unterscheiden in Trennen verwandelt, beginnen wir, diese selbsterzeugten Grenzen für die Realität zu halten.

Als Folge davon verstricken wir uns in der Illusion der Dualität und verlieren unsere Anbindung an die ursprüngliche Einheit, unser wahres Zuhause. Dabei ist gerade dieses grenzenlose Bewusstsein ein sicherer Ort für alles Schöne und für alles Schwierige in unserem Leben. Es war schon immer unser Zuhause.

Selbstmitgefühl - Zitat

Wenn der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist

Das Zitat, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, geht auf die Zeit um 200 v. Chr. zurück. Die Erkenntnis ist also nicht neu, dass emotionaler Schmerz meistens im zwischenmenschlichen Kontakt entsteht. Entweder haben wir uns selbst oder andere verletzt oder wir wurden durch andere verletzt. Wir können zur Heilung der Wunden von Wut, Hass, Gier, Rachsucht, Scham, Schuld und Neid beitragen, indem wir lernen, heilsamer mit Beziehungen umzugehen. Das erfordert eine Erweiterung des Selbstkonzeptes.

Selbstmitgefühl kultivieren

In der Praxis des Mitgefühls und Selbstmitgefühls gibt es viele Übungen und Meditationen dafür. Zunächst lernen wir, „die Waffen niederzulegen“ und freundlich zu uns selbst zu sein. Das ist die Basis, um freundlich zu anderen sein zu können. Wir entdecken eine Form von Liebe, die nicht an Bedingungen gebunden ist und wir lernen, uns mehr mit anderen zu freuen und tiefe Gelassenheit zu entwickeln.

Wir erfahren die Kraft von Großzügigkeit, Toleranz, Gleichmut und Vergebung und wir gestalten unseren Geist und unser Leben in einer Weise, die den Boden für Glücklichsein bereitet.

Hier findest du Übungen zum Kultivieren von Selbstmitgefühl →

Das Beste kommt zum Schluss

Es ist alles schon da! Die Fähigkeit zu Selbstmitgefühl ist in jedem Menschen angelegt. Wir brauchen uns also nicht anzustrengen, um irgendeine „Kompetenz“ zu „erwerben“, die wir noch nicht haben. Jeder Mensch ist von Hause aus mitfühlend und fürsorglich. Es geht im Rahmen von Selbstmitgefühlstraining vielmehr darum, herauszufinden, wo wir unserer Freundlichkeit und Güte selbst im Weg stehen. Es geht mehr um Seinlassen als um Tun.

Stell dir einen Garten vor. Manche Samen hatten gute Umstände: Sie bekamen genügend Sonne und Wasser und konnten sich zur vollsten Pracht entfalten – andere hingegen nicht. So haben auch wir in unserem Leben viel oder wenig Mitgefühl erfahren und unser Selbstmitgefühl konnte sich mehr oder weniger gut entwickeln.

Lassen wir die Sonne scheinen

Auf die Umstände hatten wir keinen Einfluss. Aber jetzt können wir die Pflege der Samen nachholen. Es ist nie zu spät für eine bessere Vergangenheit. Achtsamkeit, Offenheit, Urteilsfreiheit und Akzeptanz sind unsere Sonne und unser Wasser. Wir lassen sie scheinen und strömen, damit die Samen unseres Mitgefühls und Selbstmitgefühls zu prachtvollen Blumen der Freundlichkeit, Güte, Milde, Stärke und Schönheit erblühen können.

© Doris Kirch, 2020