Achtsames Essen kann eine wunderbare Übung in Minimalismus sein. Warum weniger manchmal mehr ist.

Nächtliche Übung in achtsamem Essen

Hatten Sie auch schon mal einen nächtlichen Fressanfall? Mir passiert das nicht oft, aber letzte Nacht ist es doch geschehen: Aus unerfindlichen Gründen wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen. Während ich mich hin- und herwälzte und versuchte, wieder in den Schlaf zu finden, verspürte ich wie aus dem Nichts ein „unheimliches“ Bedürfnis nach Schokolade.

Mir fiel ein, dass im Küchenschrank noch eine Schachtel mit Konfekt lag. Also raus aus dem Bett, ab in die Küche und ran an den Schrank. Als ich die Schachtel öffnete, sah ich, dass sie leer war – bis auf eine einzige Praline. Meinem Appetit nach, hätte ich eigentlich eine ganze Schachtel verputzen können …

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Achtsames Essen mit Schokolade

Die einzelne kleine Praline schien mich direkt zu einer Achtsamkeitsübung in Minimalismus herauszufordern. Also setzte ich mich hin und schaute mir mein Fundstück an. Ich war beeindruckt von der schönen braunen Farbe, vom seidigen Schokoladenglanz und von den schönen geschwungenen Linien, die mich an Pirouetten beim Schlittschuhlaufen erinnerten und an die Falten eines lässig dahingeworfenen Seidenschals.

Während ich die Praline zwischen Daumen und Zeigefinger bewegte, spürte ich die cremige Sanftheit der schmelzenden Schokolade, und ich bemerkte, wie mir immer mehr das Wasser im Mund zusammenlief.

Die Praline lockte mich mit dieser Cremigkeit und allmählich erreichte ihr betörender Kakaoduft meine Nase. Erinnerungen an die Kindheit blitzen auf; das Gefühl vollkommener Glückseligkeit, wenn meine Mutter mir ein Stückchen Schokolade in den Mund schob (oder ich eines stibitzt hatte). Das Aroma des schokoladigen Schmelzes, erzeugte ein grenzenloses Wohlbehagen, nicht nur in meinen Mund, sondern in jeder Zelle meiner Körpers.

Achtsam essen - Schokoladen-Uebung

Achtsam essen: Mit allen Sinnen genießen

Die Verlockung nahm zu, der Impuls, das kleine braune Kunstwerk spontan in den Mund zu stecken. Der süße Drang ergriff mich nahezu vollständig – aber ganz bewusst widerstand ich diesem Zwang und nahm dabei die körperliche Spannung wahr, die er erzeugte.

Erst als diese Spannung nachließ, führte ich die Praline ganz langsam zum Mund, ließ sie sanft über die Lippen hin- und hergleiten und leckte mit der Zunge die schmelzende Hinterlassenschaft ab.

Und dann erst schloss ich die Augen, öffnete den Mund, legte das Schokoladenstückchen auf die Zunge und bewegte es sanft  im Mund hin und her.

Eine Explosion von Aromen erreichte die Geschmacksknospen: Da waren Vanille und das süß-würzige Aroma von Kardamom, während im Hintergrund die übermütige Frische reifer sizilianischer Orangen um meine Aufmerksamkeit buhlte.

Wo fängt die Praline an, wo hört die Praline auf?
Wo fange ich an, wo höre ich auf?

Die Praline und ich: eine Geschmackseinheit! Der warme Strom süßer Schokolade rann die Kehle hinab und immer noch ein wenig mehr.

Minimalismus für intensiveren Genuss beim achtsamen Essen

Allmählich verblassten die Aromen, ihr Hall wurde schwächer und schwächer.

Der Raum um mich herum rückte wieder in den Vordergrund meines Bewusstseins, aber ich blieb noch sitzen, in enthusiastischer Verwunderung über den Genuss einer einzigen kleinen Praline.

Ich spürte in mich hinein: Wie fühlte ich mich nach diesem achtsamen Essen der Praline? Ich fühlte mich satt, genährt und zufrieden.

Für die Übung des achtsamen Essens braucht es nicht viel. Vor allem braucht es ein achtsames Gewahrsein. Wenn wir mit Achtsamkeit essen, können wir viel über uns selbst lernen, zum Beispiel wie wenig es manchmal braucht, um uns zufrieden und glücklich zu machen.

Beim nachträglichen Reflektieren dieser kleinen Achtsamkeitsübung in bewusstem Essen wurde mir klar, dass ich dieses Gefühl des Zufriedenseins machmal nicht habe, wenn ich pappsatt bin. Viel hilft offenbar nicht immer viel.

Mit dem Vorsatz, in nächster Zeit öfter Mahlzeiten als Achtsamkeitsübungen im Alltag zu nutzen und mehr zu genießen, legte ich mich wieder ins Bett und schlief zufrieden ein.

© Doris Kirch